Impuls vom Pfr. Matthias Rey von Riemenstalden

matthias

Vorstellung des Inhaltes

Während einiger Wochen der Stille bin ich dem Apostel Petrus und dem Evangelisten Markus nachgegangen. Dabei durfte ich entdecken, dass das Papsttum viel tiefer in der Bibel verankert ist, als ich das selber angenommen hatte. Sodann konnte ich aufzeigen, dass der Evangelist Markus ein Sohn des Apostels Petrus ist und dass er als Kind selber erlebt hatte, was er später in seinem Evangelium aufgeschrieben hat. Zudem kam ich zur Überzeugung, dass die Evangelien schon bald nach der Auferstehung Jesu geschrieben worden waren. Wahrscheinlich hatten die Evangelisten schon während des irdischen Lebens Jesu einige Notizen gemacht; die ersten Notizen dürften sogar aus der Zeit kurz nach dem Kindermord von Betlehem stammen.

Im Nachhinein bin ich selber erstaunt, wie diese Sachen nachgewiesen werden können. In diesem Heft sind nun meine Argumente so abgedruckt, dass sowohl Bibelkenner als auch solche, die mit der Bibel nur wenig vertraut sind, meine Gedanken leicht nachvollziehen und mit geistlichem Gewinn lesen können.

Das Heft kann ganz einfach bei mir bestellt werden: Ein Couvert mit Absender und 10 Franken darin; damit werden Druck- und Versandkosten gedeckt und ich werde das Heft per Post zusenden.

Pfarrer Matthias Rey, Pfarrhaus, Dörfli 17, 6452 Riemenstalden

 

Titelbild:          Der hl. Evangelist Markus auf dem Tabernakel der alten Marienkirche Seewen SZ

Foto:              Pfr. Matthias Rey             Bearbeitung für das Titelblatt:   André Bolfing

Druck:             Druckerei Franz Kälin AG, Einsiedeln

Das Petrusamt in der Bibel und in der frühen Kirche Ist der Evangelist Markus ein Sohn des hl. Petrus?

Das Petrusamt in der Bibel und in der frühen Kirche Ist der Evangelist Markus ein Sohn des hl. Petrus?

Verfasst von Pfarrer Matthias Rey

Einführung

Im Mai 2013 durfte ich mich in die Stille zurückziehen und das Neue Testament nach zwei Themen untersuchen, die mir schon lange am Herzen lagen. Das eine ist die Frage, wie gut das Petrusamt in der Bibel grundgelegt ist. Jesu sagt: „Du bist Petrus, der Fels, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen“ (Mt 16,18). Nebst diesem bekannten Satz sind aber bei Matthäus, Lukas und Johannes zahlreiche andere Stellen zu finden, aus denen hervorgeht, dass Jesus seine Kirche auf das Fundament des Petrus gegründet hat. Sodann finden wir das Petrusamt in der Apostelgeschichte und erstaunlicherweise auch im Brief des Apostels Paulus an die Galater.

Im ersten Teil dieser Schrift „Das Petrusamt in der Bibel und in der frühen Kirche“ erläutere ich zahlreiche biblische Hinweise auf das Amt des Apostels Petrus und zeige auch auf, wie sich der Bischof von Rom von Anfang an bewusst war, Nachfolger eben dieses Apostels zu sein.

Die andere Frage, die mich schon lange beschäftige, ist die Frage nach der Person des Markus. Die Tatsache, dass Markus als einziger Evangelist das Petrusamt nicht sonderlich hervorhebt, wirft ein Licht auf seine Persönlichkeit. War er womöglich ein Sohn des hl. Petrus, sodass es sich nicht ziemte, diesen in seinem Evangelium hervorzuheben? Diese Frage musste ich nach meinen Untersuchungen vielfältig begründet mit „Ja“ beantworten. Wenn Petrus am Ende seines ersten Briefes schreibt „es grüsst euch Markus, mein Sohn“ (1 Petr. 5,13), dann muss es sich dabei um einen leiblichen Sohn gehandelt haben. Die gängige Annahme, dass Markus ein geistlicher Sohn von Petrus war, kann klar widerlegt werden. Nicht nur die Zurückhaltung von Markus gegenüber Petrus, sondern auch die ganze Art und Weise, wie er schreibt, verrät vieles. Markus schreibt so, wie wenn jemand von seinen Kindheitserinnerungen erzählt: bildhaft, beeindruckt, ausführlich, wenig theoretisch.

Wie geht das denn, dass Petrus einen eigenen Sohn ins Apostelkollegium geschmuggelt hat? Petrus hat ja selber gesagt, dass er alles verlassen hatte (Mk 10,28)? Die Mystikerin Maria Valtorta hat mich auf die Idee gebracht, dass Markus ein Pflegesohn des hl. Petrus gewesen sein könnte („Leben und Leiden unseres Herrn Jesus Christus“ Bd IV S. 13ff und S. 53). Valtorta beschreibt ein verlassenes Waisenkind Namens Margziam, dessen Petrus sich angenommen hat, nachdem er Jesus schon gefolgt war. Es mag gewagt sein, sich auf die Beschreibung einer Mystikerin abzustützen. Aber wenn man das Markusevangelium genau betrachtet, passt alles zur Annahme, dass Markus ein Pflegesohn des Apostels Petrus war. Er hat die Wunder Jesu als Kind miterlebt später in einer Weise aufgeschrieben, die sich völlig von den andern Evangelisten unterscheidet. Erstaunlich ist auch die Übereinstimmung, wenn wir bei Maria Valtorta lesen, dass der Knabe Margziam nicht nach Jerusalem mitkommen durfte, als Jesus zum letzten Mal dorthin ging. Exakt ab dem letzten Weggang Jesu von Galiläa (Mk 10,32) ändert der Stil der Erzählung von Markus. Von Maria Valtorta angeregt kommt man schliesslich ganz unabhängig von ihr zur Erkenntnis: Markus erzählt die Wunder Jesu in Form einer Kindheitserinnerung, während er die Leidensgeschichte Jesu eher aus zweiter Hand gekannt hatte.

Im zweiten Teil dieser Schrift vergleiche ich das Markusevangelium mit Matthäus und kann so im Detail zeigen, wie Markus in der Form von Kindheitserinnerungen schreibt, während Matthäus seine Erinnerungen in der Art eines gelehrten Apostels widergibt. Der 2. Teils dieser Schrift („Ist der Evangelist Markus ein Sohn des hl. Petrus“) ist etwas anspruchsvoller als der 1. Teil („Das Petrusamt in der Bibel und in der frühen Kirche“). Doch scheinen mir meine Gedanken zu Markus von grösserer Bedeutung zu sein, da sie eine inspirierende Sichtweise des Evangeliums vermitteln.

 

Wem das Lesen der ganzen Abhandlung zu ermüdend ist, der möge meine persönlichen Schlussfolgerungen ab S. 53 zu Gemüte führen – Danke!

Das Petrusamt in der Bibel und in der frühen Kirche

Die Lesungen am Ostermontag                                                                    S. 5

Das Petrusamt in der Kirchengeschichte                                                     S. 5

Rom als Zentrum der Kirche                                                                       S. 6

Weltweite Einheit ist nur mit der Hilfe Gottes möglich                              S. 7

Das Petrusamt im Matthäusevangelium                                                      S. 8

Das Petrusamt im Markusevangelium                                                         S. 9

Das Petrusamt im Lukasevangelium                                                            S. 10

Das Petrusamt im Johannesevangelium                                                       S. 11

Petrus in Wort und Tat                                                                               S. 16

Wort und Tat Petri in der Apostelgeschichte                                              S. 16

Wort und Tat Petri bei Paulus                                                         S. 17

Wort und Tat Petri mit Jesus                                                                      S. 17

Auftreten von Petrus vor Jesus im Namen aller Jünger                   S. 18

Schlussbemerkungen                                                                                    S. 18

 

 

Ist der Evangelist Markus ein Sohn des hl. Petrus?

Jene Titel, die etwas Spezielles über die Persönlichkeit von Markus offenbaren, sind mit einem Ausrufezeichen versehen. Jene, die darin sehr deutlich sind, sind mit zwei Ausrufezeichen versehen.

 

Die Geschichte dieser Arbeit                                                                                                                   S. 19

Meine Vorgehensweise                                                                                                                                        S. 19

Wissenschaftliche Bemerkungen                                                                                                             S. 20

 

Mk 1, 1-8:       Johannes der Täufer {Mt 3, 1-12}                                                                                  S. 21

Mk 1, 12-13:   Jesus in der Wüste {Mt 4, 1-11}                                                                                     S. 21

! Mk 1, 29–31:           Heilung der Schwiegermutter des Petrus {Mt 8, 14-15}                                                               S. 21

! Mk 1, 32–34:           Heilungen vor dem Haus des Petrus {Mt 8,16}                                                                           S. 21

! Mk 1, 40–45:           Heilung des Aussätzigen {Mt 8, 2-4}                                                                               S. 22

!! Mk 2, 1–12:            Abdeckung des Daches und Heilung des Gelähmten {Mt 9, 1-8}                                      S. 22

! Mk 2, 13-17:            Berufung des Levi und Mahl mit den Zöllnern {Mt 9,9}                                                  S. 23

Mk 2, 18-22:   Fastenfrage {Mt 9, 14-17}                                                                                             S. 23

Mk 2, 23-28:   Die abgerupften Ähren {Mt 12, 1-8}                                                                              S. 23

! Mk 3, 1-6:    Heilung der verdorrten Hand {Mt 12, 9-14}                                                                   S. 24

! Mk 3, 7-12: Andrang des Volkes {Mt 4, 23-25}                                                                                 S. 24

! Mk 3, 13-19:            Berufung der 12 Apostel {Mt 13, 18-23}                                                                        S. 24

! Mk 3, 20-21:            Viel Volk – die Mutter Jesu und seine Brüder                                                                    S. 25

Mk 4, 1-34:     Gleichnisse {Mt 13, 1-52}                                                                                              S. 25

! Mk 4, 35-41:            Stillung des Seesturms {Mt 8, 23-27}                                                                              S. 25

!! Mk 5, 1-20:             Der Besessene von Gerasa {Mt 8, 28-34}                                                                        S. 26

!! Mk 5, 21-43:           Heilung der blutflüssigen Frau und Auferweckung der Tochter des Jaïrus {Mt 9, 18-26}                S. 26

! Mk 6, 1-6:    Jesus in seiner Vaterstadt {Mt 13, 53-58}                                                                       S. 27

! Mk 6, 7-13: Aussendung der Zwölf {Mt 10, 5-16}                                                                              S. 28

Mk 6, 14-16:   Herodes über Jesus {Mt 14, 1-2}                                                                                     S. 28

! Mk 6, 17-29:            Bericht über die Enthauptung Johannes’ {Mt 14, 3-12}                                                              S. 28

! Mk 6, 30-44:            Erste Brotvermehrung {Mt 14, 13-21}                                                                                      S. 29

Mk 6, 45-52:   Jesus wandelt auf dem Wasser {Mt 14, 22-33}                                                                            S. 30

! Mk 6, 53-56:            Jesus heilt in Gennesaret {Mt 14, 34-36}                                                                        S. 30

Mk 7, 1-13:     Streit übers Händewaschen {Mt 15, 1-9}                                                                         S. 30

Mk 7, 14-23:   Belehrung der Jünger über rein und unrein {Mt 15, 10-20}                                              S. 30

! Mk 7, 24-30:            Heilung der Syro-phönizierin {Mt 15, 21-28}                                                                           S. 31

!! Mk 7, 31-37:           Heilung des Taubstummen                                                                                               S. 31

Mk 8, 1-9:       Zweite Brotvermehrung {Mt 15, 32-38}                                                                        S. 32

! Mk 8, 11-13:            Zeichenvorderung der Pharisäer {Mt 16, 1-4}                                                                            S. 32

!! Mk 8, 22-26:           Heilung eines Blinden                                                                                                      S. 32

! Mk 8, 27-30:            Das Messiasbekenntnis des Petrus {Mt 16, 13-20}                                                          S. 33

! Mk 8, 31-33:            Leidensankündigung und Tadel an Petrus {Mt 16, 21-23}                                               S. 33

! Mk 9, 2-13: Die Verklärung und anschliessendes Gespräch {Mt 17, 1-13}                                           S. 33

!! Mk 9, 14-29:           Verfehlter Exorzismus der Apostel und Austreibung durch Jesus {Mt 17, 14-21}              S. 34

! Mk 9, 30-32:            Zweite Leidensankündigung {Mt 17, 22-23}                                                                   S. 35

! Mk 9, 33-37:            Streit darüber, wer der Grösste sei {Mt 18, 1-5}                                                              S. 35

Mk 9, 42-50:   Hand abhauen und Auge ausreissen {Mt 18, 6-9}                                                             S. 36

Mk 10, 1-12:   Frage der Ehescheidung/des Zölibats {Mt 19, 1-12}                                                        S. 37

!! Mk 10, 13-16: Jesus und die Kinder {Mt 19, 13-15}                                                                                      S. 37

! Mk 10, 17-22:          Der reiche Jüngling {Mt 19, 16-22}                                                                                S. 37

! Mk 10, 23-27:          Die Gefahr des Reichtums {Mt 19, 23-26}                                                                      S. 37

Mk 10, 28-31:            Frage nach dem Lohn {Mt 19, 27-30}                                                                                       S. 38

 

! Mk 10, 32-34:          Dritte Leidensankündigung {Mt 20, 17-19}                                                                    S. 38

Mk 10, 34b:    Vorhersage der Auferstehung {Mt 20, 19b}                                                                      S. 39

! Mk 10,35-41:           Die unpassende Bitte der Zebedäussöhne {Mt 20, 20-23}                                                 S. 39

Mk 10, 42-45:            Die Pflicht der Ersten zu dienen {Mt 20, 24-28}                                                            S. 39

Mk 10, 46-52:            Blindenheilung in Jericho (Bartimäus) {Mt 20, 29-34?}                                                             S. 39

! Mk 11, 1-11:            Einzug in Jerusalem {Mt 21, 1-11}                                                                                 S. 40

Mk 11, 12-14 und 20-25: Jesus verflucht den Feigenbaum {Mt 21, 18-22}                                            S. 41

Mk 11, 15-19:            Die Tempelreinigung {Mt 21, 12-17}                                                                                        S. 41

Mk 11, 27-33:            Die Vollmachtsfrage {Mt 21, 23-27}                                                                              S. 42

Mk 12, 1-12:   Das Gleichnis von den bösen Winzern {Mt 21, 33-46}                                                               S. 42

Mk 12, 13-17:            Die Steuerfrage {Mt 22, 15-22}                                                                                      S. 42

Mk 12, 18-27:            Die sieben Brüder mit der Frau und die Frage nach der Auferstehung {Mt 22, 23-33}                  S. 43

Mk 12, 28-34:            Die Frage nach dem grössten Gebot {Mt 22, 34-40}                                                       S. 43

Mk 12, 35-37:            Messiasfrage und Frage nach dem Sohne Davids {Mt 22, 41-46}                                     S. 43

Mk 12, 41-44:            Das Opfer der Witwe {Lk 21, 1-4}                                                                                 S. 44

Mk 13:                        Apokalypse {Mt 24}                                                                                                      S. 44

Mk 14, 1-2:     Todesbeschluss gegen Jesus {Mt 26, 1-5}                                                                        S. 45

Mk 14, 3-9:     Die Salbung in Betanien {Mt 26, 6-13}                                                                                      S. 45

Mk 14, 10-11:            Der Verrat des Judas {Mt 26, 14-16}                                                                              S. 45

! Mk 14, 12-16:          Die Vorbereitung des Paschamahles {Mt 26, 17-19)                                                       S. 45

Mk 14, 17-21:            Jesus bezeichnet den Verräter {Mt 26, 20-25}                                                                            S. 46

Mk 14, 22-25:            Die Einsetzung der Eucharistie {Mt 26, 26-29}                                                                          S. 46

! Mk 14, 26-31:          Die Voraussage der Verleugnung des Petrus {Mt 26, 30-35}                                            S. 46

Mk 14, 32-42:            Die schlafenden Jünger im Gehöft Namens Gethsemani {Mt 26, 36-46}                         S. 46

Mk 14, 43-52:            Die Gefangennahme Jesu {Mt 26, 47-56}                                                                       S. 47

Mk 14, 53-65:            Jesus vor dem Hohen Rat {Mt 26, 57-68}                                                                      S. 47

Mk 14, 66-72:            Die Verleugnung des Petrus {Mt 26, 69-75}                                                                    S. 47

Mk 15, 1:                    Die Übergabe Jesu an Pilatus {Mt 27, 1-2}                                                                      S. 48

Mk 15, 2-5:     Jesus vor Pilatus {Mt 27, 11-14}                                                                                    S. 48

Mk 15, 6-15:   Die Verurteilung Jesu {Mt 27, 15-26}                                                                                         S. 49

Mk 15, 16-20a:           Die Verspottung Jesu durch die Soldaten {Mt 27, 27-31a}                                               S. 49

Mk 15, 20b-21:           Jesu Gang nach Golgotha {Mt 27, 31b-32}                                                                     S. 50

Mk 15, 22-32:            Die Kreuzigung {Mt 27, 33-44}                                                                                      S. 50

Mk 15, 33-41:            Der Tod Jesu {Mt 27, 45-56}                                                                                                     S. 51

! Mk 15, 42-47:          Das Begräbnis Jesu {Mt 27, 57-61}                                                                                 S. 52

Mt 27, 62-66:             Versiegelung und Bewachung des Grabes                                                                           S. 52

Mk 16, 1-8:     Die Frauen gehen zum Grab und Jesus erscheint ihnen {Mt 28, 1-10}                                       S. 52

Mk 16, 9-20:   Der kanonische Markusschluss                                                                                                    S. 53

 

Persönliche Schlussfolgerungen                                                                        S. 53

Vorbemerkung                                                                                                                                                    S. 53

Bemerkungen zu Matthäus                                                                                                                      S. 54

!! Bemerkungen zu Markus/Zusammenfassung                                                                                      S. 56

Welches Evangelium war vorher, Markus oder Matthäus?                                                                       S. 59

Gedanken zum Lukasevangelium                                                                                                             S. 61

Schlussgedanke                                                                                                                                                   S. 64

 

Das Petrusamt in der Bibel und in der frühen Kirche

Die Lesungen am Ostermontag

 

Wer hat schon bemerkt, dass am Ostermontag – sofern beide Lesungen und das Evangelium nach Lukas (Emmaus) ungekürzt vorgetragen werden – der Apostel Simon Petrus, auch Kephas genannt, mit all seinen drei Namen vorkommt?

  •  in der 1. Lesung aus der Apostelgeschichte gleich zu Beginn: „Am Pfingsttag trat Petrus auf, zusammen mit den Elf; er erhob seine Stimme und begann zu reden“ (Apg 2,14)
  • im ersten Brief des Apostels Paulus an die Korinther: „Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäss der Schrift, und erschien dem Kephas, dann den Zwölf“ (1 Kor 15,4-5) im Evangelium nach Lukas: „Der Herr ist wirklich auferstanden und ist dem Simon
  •    erschienen“ (Lk 24,34)

 

Es ist kaum die Absicht der Kirche, den Petrus am Ostermontag in den Mittelpunkt zu stellen. Aber Petrus hat eine derart wichtige Rolle in der frühen Kirche – und damit meine ich die Kirche, die auf Erden zu existieren begann, als Jesus die Apostel berief – dass Petrus wie von selbst präsent ist, wenn die Ostermontagsliturgie die Geschehnisse rund um die Auferstehung Jesu zusammenzufassen versucht. Dass Petrus dabei gleich mit seinen drei Namen vorkommt, bewegt mich besonders. Sein sozusagen ziviler Name ist Simon. Dann gibt ihm Jesus den aramäischen Beinahmen Kephas (Joh 1,42). Und dieser Beiname ist so bedeutend, dass er in der Heiligen Schrift oft in der griechischen Form „Pétros“ auftritt. Er wird also manchmal in jener Sprache „Fels“ genannt, in der Jesus gesprochen hatte (Aramäisch „Kefãs“), und manchmal in jener Sprache, in der die Evangelien geschrieben sind (Griechisch „Pétros“). Das ist etwa so, wie wenn bei uns jemandem, der Peter heisst, manchmal auch „Fels“ gesagt würde. Das würde dem Namen Peter die Bedeutung geben, dass dieser Mensch nicht nur so heisst, sondern im Leben auch tatsächlich ein Fels ist. Namen werden und wurden ja im Alltagsgebrauch nie übersetzt. Oft sind wir uns der Bedeutung der Namen nicht einmal bewusst. Doch bei Petrus ist das einzigartig. Dass er manchmal mit dem aramäischen Namen „Kefãs“ und manchmal mit dem griechischen „Pétros“ genannt wird, heisst, dass er wirklich als Fels angesprochen wird.

 

Das Petrusamt in der Kirchengeschichte

Die Bischöfe von Rom waren sich vom Anfang der Kirchengeschichte an bewusst, Nachfolger Petri zu sein. Die konkrete Ausgestaltung des Petrusamtes mit der römischen Kurie etc. hat sich im Laufe der Geschichte gewandelt – das bestreitet niemand. Aber immer hat der Bischof von Rom die Aufgabe wahrgenommen, die Kirche zusammenzuhalten. So ist uns – zum Ärger mancher liberaler katholischer Theologen – ein Brief von Papst Clemens I. an die Korinther erhalten. Papst Clemens starb im Jahre 101. Er hatte also Petrus noch persönlich gekannt und kannte auch die Worte Jesu nicht nur aus der Schrift, sondern v.a. aus der lebendigen Erzählung. Dass er zu einem Zeitpunkt, da der Apostel Johannes noch lebte, einen Brief an die Korinther schreibt, um dort mit Autorität einen Streit zu regeln, heisst, dass er als Nachfolger Petri sogar über dem noch lebenden Apostel stand. Seiner Autorität war er sich so klar bewusst, dass er in diesem Brief Gehorsam verlangt; ja er stellt den Gehorsam Gott gegenüber gleich mit dem Gehorsam ihm selbst gegenüber. Er schreibt diesen sehr deutlichen Brief natürlich nicht aus Machtstreben, sondern in Sorge um die Einheit der Kirche. Die Authentizität dieses Clemensbriefes ist unbestritten. Man versucht ihn – wie auch sonst gewisse archäologische Erkenntnisse aus neuerer Zeit – einfach totzuschweigen, da man sonst die Ansichten über eine ach so geschwisterliche und ohne Autorität und Struktur funktionierende „Urkirche“ gründlich revidieren müsste.

 

Rom als Zentrum der Kirche

Schon zu Lebzeiten von Petrus war das Zentrum der Kirche in Rom. Petrus hat dort gewirkt und ist unter der Verfolgung von Kaiser Nero westlich der Stadt im Circus Gai et Neronis gekreuzigt worden. Heute steht an der Stelle dieses Zirkus’ das deutsche Priesterhaus „Campo Santo Teutonico“ (links neben dem Petersdom). Neben diesem Zirkus war dort, wo heute der Petersdom steht, ein Friedhof. Auf diesem Friedhof ist Petrus beerdigt worden. Im sehr aufschlussreichen Buch von Margherita Guarducci (Petrus, sein Tod – sein Grab, Chronik einer Entdeckung, Verlag Pustet, Regensburg 1975 – deutsche Übersetzung) sind die archäologischen und mit antiken Schriftstücken belegten Erkenntnisse über den Tod, das Begräbnis und die Entdeckung der Petrusreliquien (anno 1952) sehr genau beschrieben. Was ich hier über den Ort des Martyriums, das Grab und die Reliquien des Petrus schreibe, ist weitgehend diesem Buch entnommen, welches ich während meiner Studienzeit in Rom gelesen hatte und das mir mit vielen Einzelheiten heute noch in klarer Erinnerung ist.

Der Zirkus auf dem Vatikan war nach dem Stadtbrand von Rom der noch einzig funktionierende Zirkus, da er ausserhalb der antiken Stadt gelegen war. Der Stadtbrand war für Kaiser Nero Anlass zur Christenverfolgung. Petrus wurde bei dieser Verfolgung also im Zirkus auf dem Vaticanum gekreuzigt und unweit davon beerdigt. Über seinem Grab wurde nach der konstantinischen Wende die Petersbasilika gebaut. Beim Besuch des Petersdoms ist kaum jemandem bewusst, dass dieser ausserhalb des antiken Roms liegt. Er steht ja über dem Petersgrab und ist deshalb notwendiger Weise ausserhalb der antiken Stadt, da Gräber zu antiker Zeit nie innerhalb der Stadt waren (wie auch die Paulusbasilika über dem Paulusgrab ebenfalls ausserhalb der damaligen Stadt liegt und auch dort die neuesten archäologischen Forschungen das Grab des hl. Paulus in der Mitte der Basilika bestätigen). Archäologische Untersuchungen von 1940 – 1949 in der Nekropole (Friedhof mit häuschenähnlichen Grabdenkmälern) ca. 7 m unter dem Fussboden des Petersdoms brachten das Petrusgrab (ein Erdengrab) mit seinem darüber gebauten Grabdenkmal ans Licht. Der Petersdom steht demnach über diesem Grabdenkmal. Zwar steht die Kuppel des Petersdoms nicht genau mitten über dem Grab, sondern das Grab befindet sich leicht links von der Mitte des Petersdoms. Das hat folgenden Grund: Die Reliquien des hl. Petrus wurden während der Christenverfolgung in die Katakombe an der Via Appia in Sicherheit gebracht. Danach wurden sie an den ursprünglichen Ort zurückgebracht, jedoch nicht mehr ins Erdengrab, sondern in die rechte Seitenwand des Grabdenkmals. Dort waren sie besser aufgehoben als in der Erde. Beim Bau des heutigen Petersdoms stand man nun vor der Frage, ob die Mitte der Basilika über dem urspünglichen Petersgrab oder über der Nische sein soll, wo nun die Reliquien des heiligen Petrus ruhten. Die Lösung war ein intelligenter Kompromiss: Für die Mitte der Kuppel und des ganzen Petersdoms hat man die Achse zwischen Grab und Nische gewählt. Dies ist deutlich sichtbar, wenn man auf das Petersgrab mit dem dahinterstehenden Christusmosaik schaut (ein beliebtes Sujet für Postkarten). Die marmorverkleidete Wand rechts davon ist breiter als die Wand links. Beim ersten Blick beachtet kaum jemand diese Asymmetrie. Doch genau diese Asymmetrie beeindruckt zutiefst, wenn man den geschichtlichen Hintergrund kennt. Es ist beeindruckend, wie der damalige Architekt und Bauleiter Michelangelo mit Akribie das Dilemma löste, ob nun das leere verehrungswürdige Grab oder die verehrungswürdigen Reliquien das Herzstück der Basilika bilden sollte. Er entschied sich für beides zusammen. Der heutige Petersdom ist demnach präzis auf die Achse zwischen dem ursprünglichen Grab und die in der Mauer rechts davon eingemauerten Reliquien zentriert.

Noch viele andere Einzelheiten sind im Buch von Guarducci zu finden, z.B. dass an den Knochen Erdresten des leeren Grabes festgestellt werden konnten sowie Resten von Purpur (das sonst nur bei Kaisergräbern gebraucht wurde). Antikes Purpur an Knochen auf einem Friedhof, wo Hingerichtete ihre letzte Ruhestätte fanden, ist ein bestes Indiz, dass es sich um die Knochen eines Apostels handeln muss. Aber Guarducci fügt noch unzählige Details über das Grab und den darüberstehenden antiken Bau bei, wie z.B. Graffitis aus jener Zeit, Dokumente etc.

Wir müssen uns sehr wohl bewusst sein, dass Rom während der ersten drei Jahrhunderte für Christen die gefährlichste Stadt war. Die Wahl zum Bischof von Rom war sozusagen das sichere Todesurteil. Alle frühen Päpste sind als Märtyrer gestorben. Trotzdem hatte man ohne Zweifel an Rom als Zentrum der Kirche festgehalten. Also nicht weil, sondern trotzdem Rom ein Machtzentrum war – und zwar ein Machtzentrum der Christenverfolger – hat man an Rom festgehalten. Der Grund war eben, dass der Papst dort sein musste, wo Petrus zuletzt gewirkt hatte, wo er gekreuzigt und begraben worden war. Später, als eine Reihe von Päpsten aus Macht- und Geldgier in Avignon residierten, hatten heilige Frauen eindringliche Briefe geschrieben, dass der Papst dort sein müsse, wo das Grab des Petrus sei – gelegen oder ungelegen.

 

Weltweite Einheit ist nur mit der Hilfe Gottes möglich

 

Betrachten wir nicht nur die Kirchengeschichte, sondern auch in die Weltgeschichte, dann stellen wir fest, dass es in der ganzen Menschheitsgeschichte kein einziges Beispiel gibt, dass eine Institution – sei sie weltlich oder religiös – über Jahrhunderte eine weltweite Einheit halten konnte.

Die Weltreiche, angefangen bei den Griechen, über die Römer, die Kaiserreiche in Deutschland und Frankreich etc. waren einerseits nie wirklich weltweit, andererseits sind sie alle nach einer gewissen Zeit auseinandergebrochen. Die Religionen, angefangen bei den Buddhisten, den Hindus, dem Judentum, dem Islam etc. waren nie weltweit einig. Eine Ausnahme könnte das Judentum des Alten Testamentes bilden – aber genau das würde zusätzlich meine Annahme stützen, dass Einheit ein Geschenk Gottes ist. Die fernöstlichen Religionen z.B. erheben nicht einmal Anspruch auf eine solche Einigkeit. Natürlich wird hier sofort eingewendet, dass sich die Christen ja auch nicht einig sind. Doch da ist ein entscheidender Unterschied. Christus hat nicht ein diffuses Christentum gegründet, sondern er hat seine Kirche auf dem Fundament des Petrus gegründet. Und diese Kirche ist nun schon seit bald 2000 Jahren eins geblieben, in allen Ländern vertreten; sie ist eine weltweite Gemeinschaft auf dem Petrusamt als Fels stehend. Jene Getauften, die diese Kirche verlassen hatten, konnten die Einheit untereinander nicht halten. Unter verschiedensten Vorzeichen gab es immer wieder Abspaltungen – und oft haben sich diese abgespalteten Gemeinschaften sehr bald in Nationalkirchen aufgeteilt.

Da war das grosse Schisma im Jahre 1054, als sich die orthodoxen Patriarchen v.a. aus politischen Gründen vom Papst losgesagt hatten. Schauen wir heute die Orthodoxie an, dann stellen wir fest, dass es keine weltweit einheitliche orthodoxe Kirche gibt. Wir finden eine Vielfalt orthodoxer Kirchen: die Syrisch-Orthodoxe, die Syromalabarische, die Syromalankarische, die Maronitische, die Koptische, die Griechisch-Orthodoxe, die Russisch-Orthodoxe, die Ukrainische und viele mehr. Einigkeit hat es unter den Orthodoxen von Anfang an nicht gegeben. Sie haben sich den Sprachgrenzen gemäss in National- bzw. Regionalkirchen aufgesplittert. Zum Teil haben jedoch diese orthodoxen Kirchen wieder zur Einheit mit dem Papst zurückgefunden.

Dann haben wir die Abspaltung der Reformatoren. Diese Abspaltung war v.a. inhaltlich-religiös motiviert. Doch die Reformatoren selbst waren sich schon von Anfang an uneins. Und heute sind die reformierten Glaubensgemeinschaften zumeist nationale Grössen, untereinander lose verbunden, aber von Einheit kann hier keine Rede sein.

Die anglikanische Kirche, deren Abspaltung wegen der päpstlichen Verweigerung der Erlaubnis zur Wiederheirat des Königs geschehen ist, ist in einen konservativen und einen fortschrittlichen Flügel geteilt. Zudem suchen neulich gewisse Anglikaner, die dem Frauenpriestertum kritisch gegenüber stehen, den Anschluss an die römisch-katholische Kirche. Abgesehen von alldem hat sich die Anglikanische Kirche von jeher als Nationalkirche und nicht als Weltkirche verstanden.

Bemerkenswert ist auch die Abspaltung jener Christen nach dem 1. Vatikanischen Konzil, welche die Unfehlbarkeit des Papstes nicht akzeptierten. Sie gingen – trotz gleicher Motivation – in der Schweiz (Christkatholiken) und in Deutschland (Altkatholiken) getrennte Wege und sind zudem heute intern uneins wegen des Frauenpriestertums.

Schauen wir auf neuere Entwicklungen, dann finden wir eine Vielfalt von jungen christlichen Gemeinschaften, die sich sowohl von der römisch-katholischen als auch von den reformierten Landeskirchen lossagen. So haben wir heute eine Christenheit, in der die eine Hälfte nach wie vor zur Kirche gehört, die auf dem Fundament des Petrus steht. Ausserhalb dieser weltweiten Kirche gibt es jedoch schätzungsweise 30’000 verschiedene Konfessionen, Gruppen und Sekten (im Emmental allein sind es etwa 27, im Kongo ca. 500).

Wer immer sich von der römisch-katholischen Kirche loslöst, kann keine weltweite Einheit unter den Losgelösten halten.

So kann man sagen, dass die weltweite Einheit der Kirche ein andauerndes sichtbares Zeichen ist, dass der Herr selbst die Kirche führt, trotz aller Menschlichkeit, die in der Kirche vorhanden ist. Zweifellos gibt es in der Kirchengeschichte Machtkämpfe, Intrigen, Lügen, ja sogar Mord und Todschlag. Wir brauchen da nur die römisch-katholische Kirche in der Schweiz anzuschauen. Da ist z.B. der Rufmord an unliebsamen kirchlichen Amtsträgern sogar kirchenintern zeitweise an der Tagesordnung bzw. Vierzehntagesordnung – je nach Häufigkeit der Herausgabe gewisser kantonaler Pfarreiblätter. Von der einen Seite her gesehen ist die Kirche 100% menschlich, mit allen möglichen Sünden und menschlichen Schwächen behaftet. Von der andern Seite her gesehen ist aber die römisch-katholische Kirche 100% göttlich. In ihr ist der ganze Glaubensschatz bis heute erhalten – trotz aller Menschlichkeit. Und sie hat die weltweite Einheit gewahrt – trotz aller Menschlichkeit. Schliesslich hat Jesus gebetet, „alle sollen eins sein“ (Joh 17,21, auch 17,11). Dieses Gebet wurde erhört für all jene, die in der Einheit bleiben wollen. Für die, die nicht in dieser Einheit bleiben wollen, gilt der Respekt des Himmlischen Vaters vor dem freien Willen des Menschen. Wir müssen uns aber bewusst sein, dass ohne dieses Gebet Jesu auch für die, die wollen, eine weltweite Einheit nicht möglich wäre.

Die UNO ist ein Beispiel in der neuesten Weltgeschichte, in der die Menschen eine weltweite Einheit wollen. Trotz dieses Willens sind nicht alle Staaten Mitglied dieser Organisation. Und die Organisation selbst ist sehr lose und von Uneinigkeit geprägt. Wer will schon darauf eine wetten, dass sie in 1000 Jahren noch existiert?

Die römisch-katholische Kirche ist ein bleibendes sichtbares Wunder des Wirkens Gottes in dieser Welt. Der Katechismus von 1993 (KKK) sagt bei Nr. 812: „So sind die Wunder Christi… die Ausbreitung und Heiligkeit der Kirche, ihre Fruchtbarkeit und ihr Fortbestehen ganz sichere und dem Erkenntnisvermögen aller angepasste Zeichen der göttlichen Offenbarung“. Oder etwas salopp gesagt: Die Kirche mit all ihren unfähigen Führungskräften würde schon längst nicht mehr existieren, wenn sie nicht der Herr selber zusammenhalten und leiten würde. Dieses Wunder beginnt damit, dass Jesus mit Petrus eine eher schwankende Person zum Felsen der Kirche bestimmt hat. Warum hat er nicht den glaubensstarken Johannes gewählt, den Jünger, den er besonders liebte und der ihm als einziger bis unter das Kreuz treu blieb, der als erster der 12 Apostel an die Auferstehung geglaubt hat, der ihn als Auferstandenen erkannt hat, bevor Petrus es realisierte? Gott wirkt manchmal durch schwache Menschen mehr, als durch starke. Er will sichtbar machen, dass es sein Werk ist, und nicht das Werk von klugen und glaubensstarken Menschen.

 

Nach diesem geschichtlichen Überblick möchte ich jetzt zurückschauen, wie Jesus den Petrus in sein Amt berufen hat. Dabei ist klar, dass Jesus das Petrusamt nicht schafft, damit es mit der Kreuzigung Petri wieder von der Welt verschwindet.

 

 

 

Das Petrusamt im Matthäusevangelium

 

Schon bei der Erzählung der Berufung schreibt Matthäus – sozusagen als Zusatznote – „Als Jesus am See von Galiläa entlang ging, sah er zwei Brüder, Simon, genannt Petrus, und seinen Bruder Andreas…“ (Mt 4,18). Matthäus nennt also schon bei der Berufung den Namen Petrus, obschon Jesus ihm diesen Beinamen erst später gibt (Mt 16,18). Des weitern nennt Matthäus den Simon zuerst, obschon wir annehmen können, dass nicht Petrus, sondern sein Bruder Andreas zuerst berufen worden war – das geht jedenfalls aus der ausführlicheren Berufungserzählung bei Johannes hervor (Joh 1,35-42).

 

Diese Stellung als erster Apostel betont Matthäus bei der Aufzählung der Namen der Apostel: „Die Namen der zwölf Apostel sind: an erster Stelle Simon, genannt Petrus, und sein Bruder Andreas, dann Jakobus…“ (Mt 10,2). Die Bemerkung „an erster Stelle“ fügt Matthäus persönlich an und betont so die Position des Petrus in Bezug auf die andern elf Apostel.

 

Die wohl prägnanteste und auch bekannteste Aussage Jesu bezüglich des Petrusamtes finden wir bei Matthäus 16,18-19. Auf die Frage Jesu: „Für wen haltet ihr mich“ (Mt 16,15), antwortet Simon Petrus: „Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes.“ Vorerst sagt Jesus zu Simon als unmittelbare Reaktion auf seine treffende Antwort: „Selig bist du, Simon, Sohn des Jonas, denn nicht Fleisch und Blut hat dir das geoffenbart, sondern mein Vater…“ (Mt 16,17).

Dann folgt eine Aussage Jesu, die derart eingeleitet wird, dass hier mehr als nur ein Zusatz zum Gesagten steht (Mt 16,18-19): „Und ich sage dir, dass du der Fels (Petrus) bist, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen. Und ich werde dir die Schlüssel des Reiches der Himmel geben. Was immer du auf Erden binden wirst, das wird im Himmel gebunden sein, und was immer du auf Erden lösen wirst, das wird im Himmel gelöst sein.“ Es heisst: „Und ich sage dir“ – also nicht: „Weil du das gesagt hast“. Was Jesus hier zu sagen beginnt, ist unabhängig von der Leistung Simons, eine gute Antwort gesagt zu haben. Mit dem „Und ich sage dir“ wird eine feierliche Amtseinsetzung eingeleitet.

Wenn Jesus einige Verse später zu Petrus sagt: “Geh fort, hinter mich, Satan…“ (Mt 16,23), dann ist das überhaupt nicht vergleichbar mit Mt 16,18-19. Diese Worte Jesu sind eine unmittelbare Reaktion auf das menschliche, nicht geisterfüllte Ansinnen Petri, Jesus vom Leiden abzuhalten. Sie werden nicht feierlich gesprochen, sondern mit einer emotionalen Geste: „Jesus aber wandte sich um und sagte zu Petrus“. Dabei fehlt die Einführung „Und ich sage dir“. Es gleicht eher einer Ohrfeige als einem feierlichen Wort. Schliesslich sagt Jesus nicht zu Petrus: „Du bist Satan“, sondern: „Geh fort, hinter mich, Satan“. „Satan“ ist also kein Beiname von Simon. Jesus nennt ihn nur an dieser Stelle so mit der Begründung: „denn du denkst nicht die Gedanken Gottes, sondern der Menschen“ (Mt 16,23). Wenn schon eine Parallele zum Messiasbekenntnis hergestellt werden will, so entspricht dem Satz 16,23 die Antwort Jesu in 16,17 „nicht Fleisch und Blut hat dir das geoffenbart, sondern mein Vater“. Dies ist die entsprechende Parallele, und nicht die feierlichen Worte bezüglich des Beinamens Petrus.

Das Wort „Satan“ ist ausschliesslich situationsbezogen und kommt in Bezug auf Petrus nur hier vor, während „Petrus“ ein Beiname ist, der gegenüber dem Simon in allen möglichen Situationen gebraucht wird, sowohl von Jesus, als auch von den Evangelisten, vom Apostel Paulus etc. Kommt dazu, dass der Beiname nicht nur in der griechischen Form „Pétros“, sondern auch in der aramäischen Form „Kefãs“ vorkommt, was ihm ein noch grösseres Gewicht gibt. Das Petrusamt gab es schon, bevor die Bibel zu Ende geschrieben war und längst bevor die Kirche römisch-katholisch genannt wurde.

 

Bemerkenswert ist die Aufzählung der drei Apostel Petrus, Jakobus und Johannes bei Matthäus, wo er die Erzählung über die Verklärung Jesu einleitet. Aus dem Griechischen wörtlich übersetzt heisst es da (Mt 17,1): „Und nach sechs Tagen nimmt der Jesus zu sich den Petrus und Jakobus und dessen Bruder Johannes, und führt sie hinauf auf einen hohen Berg für sich.“ Jesus ist im griechischen Text mit Artikel (was im Deutschen unüblich ist und deshalb selten so genau übersetzt wird), Petrus ist ebenfalls mit Artikel, Jakobus hingegen ist ohne Artikel und Johannes in Abhängigkeit zu Jakobus als dessen Bruder. Matthäus hebt demnach den Petrus hervor. Er stellt ihn sprachlich auf die gleiche Ebene wie Jesus, während die beiden andern Apostel in anderer Art aufgezählt werden.

 

Damit sind wir an einem Schnittpunkt zum Markusevangelium. Dort ist die Aufzählung anders.

 

 

 

Das Petrusamt im Markusevangelium

 

Die soeben bei Matthäus beschriebene Szene (Mt 17,1) schildert Markus wie folgt (Mk 9,2 – aus dem Griechischen wörtlich übersetzt): „Der Jesus nimmt den Petrus und den Jakobus und den Johannes und führt sie auf einen hohen Berg für sich allein.“ Indem Markus vor jeden Namen einen Artikel setzt, hebt er keinen von ihnen hervor. Zwar nennt auch er Petrus an erster Stelle. Das wird als normal empfunden. Aber er hebt ihn nicht weiter hervor. Das ist typisch für Markus. Er ist mit der Hervorhebung des Petrus zurückhaltender als die andern drei Evangelisten. Das entspricht der Annahme, dass Markus ein leiblicher Sohn bzw. ein Pflegesohn des Petrus war. Wäre er ein geitlicher Sohn, dann könnte er Petrus ohne Zögern hervorheben. Doch als ein Sohn in materieller Abhängigkeit ziemt sich das nicht. So wie es sich nicht ziemte, dass der Evangelist sich selbst in Szene setzt, so ziemte es sich auch nicht, seinen eigenen Vater in den Vordergrund zu stellen. Immerhin nennt Markus bei der Berufung der Jünger den Andreas „Bruder des Simon“ und nicht umgekehrt. Und immerhin hält auch er sich an die Regel, bei Aufzählungen Petrus stets an erster Stelle zu nennen. Das war so üblich.

 

Auch bei andern Szenen hebt Markus den Petrus weniger hervor. Während Matthäus schreibt, dass Jesus „in das Haus des Petrus kam“ (Mt 8,14), schreibt Markus, dass „er in das Haus des Simon und Andreas“ (Mk 1,29) ging. Während Matthäus ihn Petrus nennt, obschon ihm Jesus diesen Beinamen erst in Mt 16,18 gibt, verbirgt Markus seinen Vater, indem er ihn erstens Simon nennt und dann zweitens erwähnt, dass es nicht nur sein Haus, sondern auch das seines Bruders Andreas war.

 

Bei der Aufzählung der berufenen Apostel lässt Markus durchscheinen (wohl eher unbewusst), dass er als Sohn des Simon Petrus das Verhältnis von Simon zu Jesus als etwas ganz Spezielles erlebt hat (Mk 3,16-18). Bei dieser Aufzählung wird nämlich Petrus gar nicht regelrecht berufen, sondern es scheint, dass er von jeher zu Jesus gehört. Jesus gibt ihm direkt den Beinamen Petrus, ehe die andern zu wissen bekommen, dass auch sie zu den Zwölf gehören. Wort für Wort übersetzt heisst es im griechischen Text: „Und er bestellte also die Zwölf und er gab dem Simon den Beinamen Petrus, und Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und Johannes, den Bruder des Jakobus, denen gab er den Beinamen Boanerges, das heisst Donnersöhne, und Andreas…“. Bei dieser (unüblich) genauen Übersetzung fällt auf, dass Petrus anders behandelt wird als die andern Apostel. Eigentlich müsste es doch heissen: „Und er bestellte also die Zwölf: den Simon, ihm gab er den Beinamen Petrus, und Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und Johannes, den Bruder des Jakobus, denen gab er den Beinamen…“. Doch wird bei genauer Betrachtung des Markustextes Simon eben gar nicht richtig berufen. Er gehört einfach zu Jesus, und Jesus gibt ihm den Beinamen Petrus und damit ist er berufen.

 

Die Zurechtweisung des Petrus, nachdem dieser Jesus vom Leiden abhalten wollte, wird im Markusevangelium (verglichen mit Matthäus) mit einem bemerkenswerten Zusatz geschildert: „Jesus wandte sich um, sah seine Jünger an und wies Petrus mit den Worten zurecht: Weg mit dir, Satan…“ (Mk 8,33). Mit der Erwähnung, dass Jesus den Petrus nicht nur zurechtweist, sondern dabei auch noch die andern Jünger anschaut, veranschaulicht Markus wohl die Peinlichkeit der Situation. Doch unbeabsichtigt hebt er dabei die Bedeutung des Petrus in seinem Leitungsamt hervor. Als Anführer musste er von Jesus nicht nur persönlich, sondern vor allen zurechtgewiesen werden. Sein Fehlverhalten hat nicht nur persönliche Folgen, sondern wirkt sich auf das ganze Apostelkollegium aus.

 

Schliesslich sind im Markusevangelium die Worte des Engels bemerkenswert, der nach der Auferstehung Jesu Folgendes zu den Frauen sagt: „Nun aber geht und sagt seinen Jüngern, vor allem Petrus: Er geht euch voraus nach Galiläa…“ (Mk 16,7). Diese Hervorhebung des Petrus ist für Markus untypisch. Da es sich jedoch um Engelsworte handelt, stehen diese unverändert im Markusevangelium und so finden wir an dieser Stelle ein unverkürztes Zeugnis für die Vorrangstellung des Petrus.

 

 

 

Das Petrusamt im Lukasevangelium

 

Die Berufungsgeschichte im Lukasevangelium (Lk 5,1-11) ist auffällig petruszentriert. Sie beginnt mit einem eigenartigen Hinweis: „Jesus stieg in das Boot, das dem Simon gehörte“ (Lk 5,3). Die Evangelisten berichten einige Male, dass Jesus in ein Boot stieg. Aber nie wird gesagt, wem dieses Boot gehört. Hier wird es nicht nur gesagt, sondern sogar hervorgehoben. Es heisst nicht, er stieg in Simons Boot, sondern „eis èn tõn ploíoon, hò än Símoonos“ – „in eines der Boote, welches war Simons“.

Dann bat ihn Jesus, ein Stück weit vom Land wegzufahren. Durch das Wegfahren, das der Simon zu machen hatte, wird Jesus von den Leuten besser verstanden. Die Wasseroberfläche dient als Schallverstärker und Schallverteiler. Technisch klug; doch diese technische Verstärkung der Predigt Jesu soll der Simon machen, von dessen Boot aus Jesus das Volk lehrt. Das Boot könnte gar Symbol für die Kirche sein, die dem Simon „gehört“ und von der aus Jesus dem Menschen am Ufer predigt.

Dann folgt ein Gespräch mit Simon, wie es sonst in dieser Art keine Gespräche zwischen Jesus und einem Apostel gibt. Ich erlaube mir, dieses Gespräch mit kursiv gedruckten Hintergedanken zu versehen, um deutlich zu machen, wie direkt und emotionsvoll diese beiden miteinander umgehen (Lk 5,4-11): „Als Jesus seine Rede beendet hatte, sagte er zu Simon: Fahr hinaus auf den See! Dort werft eure Netze zum Fang aus! Was dann geschieht, wird euch davon überzeugen, dass ihr mir vertrauen und mir nachfolgen sollt. Simon antwortete ihm: Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen. Du hast von Fischen keine Ahnung – die Zeit zum Fischen ist jetzt völlig ungeeignet. Doch wenn du es sagst, werde ich die Netze auswerfen. Du sollst dann schon sehen, dass das schief gehen wird. Das taten sie, und sie fingen eine so grosse Menge Fische, dass ihre Netze zu reissen drohten. Dies geschah, weil sie trotz menschlicher Einwände dem Herrn gehorcht hatten … Als Simon Petrus das sah, fiel er Jesus zu Füssen und sagte: Herr, geh weg von mir; ich bin ein Sünder. Ich habe in meinem Leben stets nur auf meine eigenen Fähigkeiten gebaut und jetzt sehe ich, was möglich ist, wenn ich dir gehorche. … Da sagte Jesus zu Simon: Fürchte dich nicht! Von jetzt an wirst du Menschen fangen. Und sie zogen die Boote an Land, liessen alles zurück und folgten ihm nach.“

Nebst der Vertrauheit, die hier zwischen Jesus und Petrus mitschwingt, ist auch das unvermittelte Hin- und Her zwischen Einzahl und Mehrzahl auffällig. Lk 5,4: „Fahr hinaus auf den See! Dort werft eure Netze zum Fang aus!“ – da klingt deutlich durch, dass Petrus der Anführer ist. Was er tut, das tun die andern auch. Ihm wird am Schluss dieser Szene der Auftrag zum Menschen fangen gegeben, und alle zusammen zogen die Boote an Land und folgten Jesus (Lk 5,10-11): „Von jetzt an wirst du Menschen fangen. Und sie zogen die Boote an Land, liessen alles zurück und folgten ihm nach.“

Lukas nennt den Petrus bei der ganzen Szene konsequent „Simon“, da er ja den Beinamen Petrus noch nicht hatte. Doch bei der entscheidenden Wende der Geschichte nennt er ihn „Simon Petrus“; damit deutet er an, dass sein Amt von allem Anfang an von Jesus bestimmt war.

Zusammenfassend sei nochmals hervorgehoben: Die Berufungsgeschichte der ersten Jüngergruppe bei Lukas ist extrem auf Petrus zentriert. Ohne Petrus läuft nichts, mit ihm kommt alles ins Rollen.

 

Bei der Aufzählung der Zwölf wird (wie bei Matthäus und Markus) der Simon mit Beinamen Petrus an erster Stelle genannt: „Simon, dem er den Namen Petrus gab, und sein Bruder Andreas…“ (Lk 6,14). Beim andern Simon wird auch der Beiname genannt. Bemerkenswert ist der Unterschied bei der Nennung der beiden Beinamen: „Símoona, hòn kaì oovómasen Pérton“ – „Simon, den er auch nannte Petrus“. Beim andern Simon heisst es: „Símon, tòn kalúmenon Zälootäv“ – Simon, der Zelot genannt wird (passiv).

 

Bei Lukas finden wir einen ganz besonderen Auftrag Jesu an Petrus beim Letzten Abendmahl, und zwar unmittelbar vor seiner Vorhersage, dass Petrus ihn verleugnen werde (Lk 22,31-32): „Simon, Simon, der Satan hat verlangt, dass er euch wie Weizen sieben darf. Ich aber habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht erlischt. Und wenn du dich wieder bekehrt hast, dann stärke deine Brüder.“ Einerseits ist bemerkenswert, dass Jesus für Simon ganz speziell gebetet hat und dies auch in Gegenwart aller Apostel sagt. Dann aber gibt er ihm explizit den Auftrag, seine Brüder zu stärken. Wieso denn er, der Jesus verleugnet hat und nicht Johannes, der Jesus bis unter das Kreuz treu geblieben ist? Es ist eine freie Entscheidung Jesu, der seine Kirche auf das Fundament des Petrus bauen wollte.

 

Zuletzt sei noch jene Stelle erwähnt, als die Emmausjünger zu den Elf und den andern Jüngern kamen. Diese sagten (Lk 24, 34): „Der Herr ist wirklich auferstanden und ist dem Simon erschienen.“ Sie hätten ja auch sagen können, er sei den Frauen erschienen. Aber massgebend war eben der Simon, obschon Jesus zuerst den Frauen erschienen war.

 

 

 

Das Petrusamt im Johannesevangelium

 

Die Schilderung der Berufung des Simon ist im Johannesevangelium sehr speziell. Zuerst berichtet der Evangelist Johannes, dass Johannes der Täufer zwei seiner Jünger auf Jesus verweist und diese ihm daraufhin folgen. „Andreas, der Bruder des Simon Petrus, war einer der beiden… Dieser traf zuerst seinen Bruder Simon…“ (Joh 1,40-41). Bemerkenswert ist, dass der Evangelist den Beinamen Petrus vorerst erwähnt und, wenn es um die Szene geht, wo die beiden Brüder zusammentreffen, nur Simon schreibt. Andreas führt dann seinen Bruder Simon zu Jesus, und „Jesus blickte ihn an und sagte: ‚Du bist Simon, der Sohn des Johannes; du wirst Kephas genannt werden’ – das wird übersetzt: Petrus.“

Jesus prophezeit ihm seinen Beinamen, als er ihm zum ersten Mal begegnet. In der direkten Rede Jesu wird im griechischen Text dieser Beiname auf Aramäisch genannt: „sü klätäsä Kefãs“ (du wirst Kaphas genannt werden). Dann fährt der Evangelist fort: „ho hermäneúetai Pétros“ (das heisst übersetzt Petrus bzw. das heisst übersetzt Fels). Die Nennung des Namens in der Muttersprache Jesu und die darauffolgende Übersetzung hebt in doppelter Weise die Bedeutung dieses Beinamens hervor. Der Evangelist widergibt das Wort Jesu original und will dann aber sicher sein, dass der Leser (der ja vielleicht nicht Aramäisch kann) es auch versteht.

 

Im Johannesevangelium scheint immer wieder die besondere Beziehung auf zwischen Petrus und Johannes (dem Jünger, den Jesus liebte). Johannes ist der, der tiefere und insbesondere nach der Auferstehung Jesu oft schnellere Einsichten in die Geschehnisse hatte; aber er hat immer dem Petrus den Vorrang gelassen. Johannes hat durchaus ein gesundes Selbstbewusstsein; schliesslich nennt er sich „der Jünger, den Jesus liebt“. Aber ebenso ist er sich bewusst, dass Petrus von Jesus das Amt des Felsen hat, jenes Amt, das ihm eine Vorrangstellung vor allen Aposteln gibt.

Da ist jene bekannte Stelle, bei der Simon Petrus und der Jünger, den Jesus liebte, miteinander zum Grab Jesu eilten (Joh 20,4-8): „…aber weil der andere Jünger schneller war als Petrus, kam er als erster ans Grab. Er beugte sich vor …, ging aber nicht hinein. Da kam auch Simon Petrus … und ging in das Grab hinein… Da ging auch der andere Jünger, der zuerst an das Grab gekommen war, hinein…“. Er lässt also Petrus den Vortritt, obschon er zuerst am Grab war. Wäre er sich nicht der Vorrangstellung des Petrus bewusst gewesen, dann hätte es keinen Grund gegeben, auf Petrus zu warten. Er wäre gewiss sofort ins Grab gegangen, um zu schauen.

Noch eindrücklicher ist die Szene am See von Tiberias, wo Johannes erkennt, dass es Jesus ist, der am Ufer steht. Er geht nicht zu Jesus, sondern er sagt dem Petrus: „Es ist der Herr“ (Joh 21,7). Da springt Petrus in den See auf Jesus zu, während die andern Jünger mühsam mit dem Boot zum Ufer nachkommen. Johannes drängt Petrus zu Jesus hin, so wie die hl. Brigitta von Schweden den Papst in Avignon gedrängt hatte, nach Rom zurückzukehren. Die Mystiker haben oft tiefere und klarere Einsichten als der Papst. Aber sie drängen sich nicht selber vor, sondern sie drängen den Papst, die Einsichten, die sie haben, an die Öffentlichkeit zu tragen. Sozusagen das Urbild für dieses Verhalten ist das Verhältnis zwischen Johannes und Petrus.

 

Dieses Verhältnis Johannes – Petrus leuchtet im letzten Kapitel des Johannesevangeliums besonders stark auf. Ja das ganze 21. Kapitel des Johannesevangeliums ist nichts anderes, als eine Verdeutlichung des Petrusamtes. Anhand der abschliessenden Verse am Ende des 20. Kapitels (Joh 20,30-31) ist es unbestritten, dass das 21. Kapitel ein Nachtrag zum schon einmal mit Joh 20,31 beendeten Johannesevangelium ist. Im Kommentar der Einheitsübersetzung vom Verlag Katholisches Bibelwerk Stuttgart, 2002, heisst es sehr oberflächlich und unwissenschaftlich zum 21. Kapitel: „Das nachträglich hinzugefügte Kapitel stammt aus dem Schülerkreis des Evangelisten“. Die Jerusalemer Bibel (Herder 1969) kommentiert da etwas vorsichtiger: „Entweder vom Evangelisten selbst oder von einem seiner Schüler hinzugefügt.“ Die ganze Art des Erzählens, der ganze Stil des 21. Kapitels weist darauf hin, dass das 21. Kapitel vom selben Verfasser stammt, wie die vorgängigen 20 Kapitel (Herders Bibelkommentar „Die Heilige Schrift für das Leben erklärt“, Bd XIII übersetzt und erklärt von Willibald Lauck, Freiburg im Breisgau 1941, S. 462): „Allein die Sprache des 21. Kapitels ist bis in die Einzelheiten hinein so johanneisch, dass die Annahme, Johannes habe das Kapitel selbst geschrieben, jedenfalls viel natürlicher und ungekünstelter ist.“ Dass Johannes im 21. Kapitel seinen Namen nennt, nachdem er sich sonst immer als „der Jünger, den Jesus liebte“ bezeichnet hatte, könnte ein Hinweis dafür sein, dass Johannes in seiner Demut sehr feinfühlig war. Ist es demütiger zu sagen „der Jünger, den Jesus liebte“ oder „Johannes“? Wenn der Leser nicht weiss, dass es sich um Johannes handelt, kann die Bezeichnung „der Jünger, den Jesus liebte“ durchaus ein Akt der Demut sein, mit dem sich der Evangelist verbirgt. Doch zum Zeitpunkt, als er das 21. Kapitel seinem Evangelium anfügte, wussten alle, dass „der Jünger, den Jesus liebte“ eben jener Apostel Johannes war, der damals auf Patmos verbannt war. So war es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr angemessen, die Bezeichnung „der Jünger, den Jesus liebte“ weiterhin zu gebrauchen.

Es ist naheliegend, dass Johannes selber das 21. Kapitel später angefügt hatte – freilich möglicherweise mit Hilfe seiner Jünger, die ihm gemäss einer frühchristlichen Bemerkung bei der Abfassung des ganzen Evangeliums geholfen hatten (Herders Bibelkommentar 1941, S. 462). Und für diese Anfügung des 21. Kapitels gab es einen wichtigen Grund: Nach dem Tod von Petrus entstand die eigenartige neue Situation in der Kirche, dass der Bischof von Rom als Nachfolger Petri ein Vorgesetzter des noch lebenden Apostels Johannes war. Der Nachfolger Petri hatte die Aufgabe, die Kirche zusammenzuhalten und nicht der Apostel Johannes. Das wurde offenbar nicht von allen akzeptiert. Anfangs dieser Abhandlung habe ich erwähnt, dass Papst Clemens I. einen Brief an die Korinther geschrieben hatte zur Zeit, als Johannes noch lebte. Johannes hatte seinerseits mitbekommen, dass es eine Gruppe Christen gab, die dachte, dass er (Johannes) nicht sterben werde. Diese Gruppe wurde zu einer grossen Gefahr für die Einheit der Kirche, denn sie trachtete danach, dass Johannes als „graue Eminenz“ die Kirche leiten solle (Herders Bibelkommentar 1941, Bd XIII, S. 462). Johannes, der sich bewusst war, dass er in seinem Evangelium nicht alles aufgeschrieben hatte, was Jesus gesagt und getan hatte (vgl. Joh 20,30), sah sich veranlasst, das Ereignis mit dem Fischfang, das sich am See von Tiberias zugetragen hatte, unbedingt noch seinem Evangelium anzufügen und so als letzter noch lebender Apostel die Autorität des Petrus bzw. seines Nachfolgers zu bestärken. Er hatte bisher gedacht, dass die Aussagen der andern Evangelisten, insbesondere die Amtseinsetzung bei Matthäus 16,18 genügten, um klar zu machen, dass Petrus (und seine Nachfolger!) von Jesus das Amt für die Leitung der Kirche erhalten hatte. Doch jetzt, da er die Autorität des Nachfolgers Petri (wahrscheinlich Papst Clemens I. als dritter Nachfolger, nicht auszuschliessen sind aber auch Linus oder Anakletus) durch die Präsenz seiner eigenen Persönlichkeit in Gefahr sieht, schreibt er das 21. Kapitel und fügt es seinem Evangelium an.

Er nimmt sozusagen seine ganze Autorität als letzter noch lebender Apostel und Evangelist in Anspruch, um das Petrusamt zu stärken und so quasi als „graue Eminenz im Hintergrund“ die Kirche zusammenzuhalten. Das typische Verhältnis von Johannes zu Petrus setzt sich also demnach fort im Verhältnis von Johannes zum Nachfolger Petri, dem Bischof von Rom. Wenn er mit diesem Anhang, der übrigens bei keiner Handschrift und in keiner alten Übersetzung fehlt (Herders Bibelkommentar 1941, Bd XIII, S. 461), den Auftrag Jesu an Petrus bekräftigt, dann gilt diese Bekräftigung zweifellos auch für den Nachfolger Petri. Ansonsten macht dieses 21. Kapitel gar keinen Sinn, denn ganz unabhängig vom bereits Geschriebenen ist es unbestritten, dass zur Zeit der Abfassung dieses 21. Kapitels Petrus bereits gestorben war (s. Vers 19). Es geht also klar um das Petrusamt und nicht nur um den Petrus, der gestorben ist. Denn zu Lebzeiten war die Autorität des Petrus in keiner Weise in Frage gestellt.

Bei der Abfassung dieses 21. Kapitels will Johannes möglichst genau berichten, was da geschehen war. Er weiss, dass das, was Jesus bei seiner Offenbarung am See von Tiberias gesagt hatte und symbolisch geschehen liess (das Wunder vom Fischfang), in jeder Einzelheit bedeutsam war. Er schreibt jetzt die bedeutenden Worte Jesu und die ebenso bedeutenden Ereignisse rund um jenen Fischfang genauestens nieder, um die gegenwärtige kirchliche Situation ins Lot zu bringen. So zählt er eingangs die Jünger auf, die dabei waren (Joh 21,2): „Simon Petrus, Thomas, genannt Didymus, Natanaël aus Kana in Galiläa, die Söhne des Zebedäus (wozu er selber gehörte) und zwei andere von seinen Jüngern waren zusammen.“ Warum werden „zwei andere Jünger“ nicht beim Namen genannt? Die Lösung des Rätsels ist naheliegend! Johannes konnte sich zum Zeitpunkt des Nachtrages des 21. Kapitels eben nicht mehr daran erinnern, wer noch dabei war. Trotzdem nahm er es sehr genau mit der Erzählung und schrieb deshalb alles auf, was er noch wusste. Er wusste, dass da noch zwei andere Jünger waren, wusste aber nicht mehr, wer sie waren. Wir können also aus dieser Bemerkung das Alter des Evangelisten zur Zeit der Niederschrift des 21. Kapitels erahnen. Ja, Gott offenbart sich durch menschliche Worte, und gerade diese Ungenauigkeit im Text gibt uns einen wertvollen Hinweis über die Echtheit des Nachtrages. Wäre die Geschichte erfunden, dann gäbe es keinen Grund, zwei Jünger anonym zu lassen, während alle andern mit Namen genannt werden.

 

Nun zum Geschehen selbst im 21. Kapitel: Da tritt – anfangs Vers 3 – Petrus in seiner Autorität auf und sagt: „Ich gehe fischen. Sie sagten: Wir kommen auch mit.“ Hier begeht Petrus Amtsmissbrauch, denn er missbraucht seine Autorität, um eine eigene Idee durchzusetzen. Die Konsequenz: „Aber in dieser Nacht fingen sie nichts“ (ein Gedanke aus den Predigten von Hans Buob).

Dann sagt Jesus, der am Ufer steht, zu ihnen (Joh 21,6): „Werft das Netz auf der rechten Seite des Bootes aus und ihr werdet etwas fangen.“ Obschon die Jünger den Herrn nicht erkennen – ein Phänomen, das nur damit erklärt werden kann, dass es eben so war und deshalb so berichtet wird – gehorchen sie ihm. Darauf glückt der grosse Fang. Bei Petrus müssten da „alle Glocken läuten“, denn diese Situation ist sehr ähnlich wie einst bei seiner Berufung (Lk 5,1-11). Aber er scheint völlig verstockt zu sein. Darum sagt ihm Johannes, der die Situation erfasst: „Es ist der Herr!“ (21,7) – vielleicht mit dem Unterton in der Stimme: schaltet es denn bei dir überhaupt nicht. Da endlich kommt bei Petrus doch das klare „Aha“, und er springt in den See, um schneller beim Herrn zu sein, bevor das Boot mit dem schweren Netz am Ufer ankommt. Dass sich Petrus dabei das Obergewand umgürtet, hat nicht etwa damit zu tun, dass man sich damals zum Baden Kleider anzog, sondern weil er ordentlich vor den Herrn treten wollte. Schliesslich tritt man nicht ohne Gewand und auch nicht mit ungebundenem, offenen Gewand vor den König.

Dann folgt die eigenartige Episode, wo Simon Petrus das Netz an Land zog (21,11), von dem es zuvor hiess, „sie konnten es nicht wieder einholen, so voller Fische war es“ (21,6). Das heisst aber nicht, dass es sich deshalb um eine erfundene Geschichte handelt. Einerseits ist es leichter, ein Netz an Land zu ziehen, als es ins Boot einzuholen, andererseits ist gut denkbar, dass Petrus sich von den andern helfen liess, analog zu Lukas 5,4, als Jesus im selben Auftrag Einzahl und Mehrzahl verwendet („Fahr hinaus auf den See! Dort werft eure Netze aus!“). So wie ein König in den Krieg zieht und das ja wohl nicht alleine tut, so zieht Petrus das Netz an Land und lässt sich womöglich von den andern helfen (aus den Predigten von Hans Buob). Wichtig ist, dass Petrus führt und dafür verantwortlich ist, dass das Netz nicht zerreisst und dabei alle Sorten Fische an Land zieht.

Darauf folgt die dreimalige Frage an Petrus: „Liebst du mich“. Eingeleitet wird diese Frage mit: „Simon, Sohn des Johannes“ (Joh 21,15). Die Ähnlichkeit mit Matthäus 16,17 ist unübersehbar. Dort bei Matthäus, wo Jesus dazu ansetzt, den Simon als Felsen einzusetzen, spricht er ihn an mit: „Simon, Barjona“, was übersetzt heisst: „Simon, Sohn des Jona“. Ob Jona eine Abkürzung ist von Johannes (wie im Deutschen „Hans“)? Unbestritten ist, dass Jesus den Simon Petrus ausschliesslich an diesen beiden Stellen anredet mit: „Simon, Sohn des …“ – also mit seinem ursprünglichen Namen samt Vatername. Somit fühlte sich Simon persönlich und unverwechselbar angesprochen. Auch klingt in dieser Anrede eine gewisse Offizialität mit. Eine solche Benennung ist heute noch üblich, wenn wir ein amtliches Dokument ausfüllen und dabei unseren Namen und den Namen des Vaters einschreiben: xx, Sohn des xy. Es handelt sich um eine besonders feierliche und unverwechselbare Anrede; eine Anrede, die zu einer Amtserhebung ansetzt.

Jetzt wird im 21. Johanneskapitel von Jesus präzisiert, was er mit dem Petrusamt meint. Er gibt ihm einen dreifachen Auftrag: „Weide meine Lämmer“ (bóske tà agnía mu – 21,15), „Hüte bzw. pflege meine Schafe“ (poímaine tà próbatá mu – 21,16), und schliesslich „Weide meine Schafe“ (bóske tà próbatá mu – 21,17). Leider sind da manche Übersetzungen sehr ungenau. Mit den Lämmern ist das Volk Gottes gemeint, mit den Schafen die Apostel bzw. die Bischöfe. Das wird dadurch angedeutet, dass Petrus für die Schafe einen zweifachen Auftrag bekommt, während er für die Lämmer nur einen Auftrag erhält. Die Lämmer (das Volk) muss er lediglich auf die Weide führen. Griechisch „bóske“ bedeutet „die Fütterung der Tiere“ (gem. Sprachlicher Schlüssel zum Griechischen neuen Testament, Brunnen-Verlag 1970). Diese Fütterung bedeutet die Verkündigung des Wortes Gottes, die Predigt. Die Schafe (die Apostel bzw. die Bischöfe) muss Petrus hingegen nicht nur füttern. Sie müssen von ihm auch gepflegt werden. Griechisch „poímaine“ nennt die ganze vom Hirten der Herde gewährte Leitung und Pflege (gem. Sprachlicher Schlüssel). Der Papst hat genau diese drei Aufträge und zwar in der Reihenfolge, wie sie bei Johannes zu lesen ist:

 

  • „Weide meine Lämmer“ (bóske tà agnía mu – Joh 21,15). Der Papst soll dem Volk predigen und es so auf die Weide des Wortes Gottes führen.
  • „Hüte bzw. pflege meine Schafe“ (poímaine tà próbatá mu – Joh 21,16). Er soll die Bischöfe „pflegen“ und leiten. Unter der Pflege versteht man auch, dass er untersuchen muss, ob der Glaube der Bischöfe gesund ist. Dazu braucht es persönliche Audienzen.
  • „Weide meine Schafe“ (bóske tà próbatá mu – Joh 21,17). Der Papst hat auch die Bischöfe auf die Weide zu führen, indem er auch ihnen predigt.

Auch wenn die Wörter, die Jesus damals aramäisch oder hebräisch gesagt hatte, anders waren als im Griechischen, so denke ich doch, dass Johannes zusammen mit seinen Jüngern die griechischen Wörter sicherlich sorgfältig ausgewählt hat. Niemals dürfen wir dabei vergessen, dass es sich um einen inspirierten Text, um Gottes Wort handelt.

Jedem dieser Aufträge, zu weiden und zu pflegen, geht die Frage Jesu an Petrus voraus: „Liebst du mich“; zweimal mit dem Wort „agapãs“, was eine reine, sozusagen göttliche Liebe bedeutet, eine Liebe aus dem bewussten Willen heraus (Herders Bibelkommentar 1941, Bd XIII, S. 468), beim dritten Mal mit dem Wort „fileis“, was Liebe in Form von Zuneigung, in eher menschlich-sympathischer Weise bedeutet und treffend übersetzt werden kann mit: „Hast du mich lieb“ (Eberfelder Bibel, Brockhausverlag Wuppertal und Zürich, 1992). Nicht nur, dass Jesus dreimal fragt, sondern auch diese Zurückstufung der Frage auf eine menschliche Liebe macht Petrus traurig (21,17). Die landläufige Erklärung ist, dass sich Petrus in diesem Moment an seine dreifache Verleugnung erinnert. Doch scheint es wenig plausibel, dass Jesus den Petrus an diese Verleugnung erinnern will. Die hat er ihm ja vergeben, als er ihn anschaute und bei Petrus eine tiefe Reue erweckte (Lk 22,61). Es ist nicht Jesu Art, Vergangenes, das bereits bereut ist, wieder hervorzuholen. Jesus möchte vielmehr an etwas erinnern, das Petrus noch nicht bereut hat (aus einer Predigt von Hans Buob). Er fragt ihn also: „Liebst du mich? Liebst du mich? Hast du mich lieb?“

Durch diese dreimalige Fragestellung geht Petrus in sich und er beginnt in seinem Gewissen zu forschen, was es denn ist, das zwischen ihm und Jesus steht und den Fluss der göttlichen Liebe hindert. Und da kommt ihm der anfangs meines Kommentars zum 21. Kapitel erwähnte Amtsmissbrauch in den Sinn. Es kommt ihm in den Sinn, dass er in seine alten Muster zurückgefallen ist und nach eigenem Können und Wissen – ohne die göttliche Gnade – gehandelt hat, als er am Abend zuvor gesagt hatte: „Ich gehe fischen“ und somit die andern Jünger zu einer fruchtlosen, rein menschlichen nächtlichen Arbeit verführt hat (vgl. Lk 5,5). Er hatte die Führungsrolle unter den Aposteln, liess sich aber nicht vom Herrn, sondern von seinem eigenen Können und Gutdünken leiten. Der Herr will nicht, dass er die Lämmer weidet und die Schafe pflegt und weidet auf der reinen Ebene des Machens, der rein menschlichen Geschicklichkeit. Er bringt durch die dreifache Frage den Petrus zur Besinnung, dass er weiden und pflegn soll, indem er selber dem Herrn gehorcht und sich von ihm führen lässt. Jesus will keine Leitung der Kirche ohne selbstlose Liebe zu ihm (Predigt von Hans Buob).

Dann folgt die Leidensankündigung (Joh 21, 18-19) und schliesslich nochmals die eindringliche Erinnerung an den Grundauftrag: „Folge mir nach!“. Petrus soll nicht in die einstmalige Versuchung zurückfallen, das Leiden abzulehnen (vgl. Mt 16,22). Doch genau das wird ihm nochmals widerfahren – diesmal nicht im Bezug auf das Leiden Jesu, sondern im Hinblick auf das eigene Martyrium. Petrus war gerade im Begriff, von Rom zu flüchten, als ihm Jesus an der Via Appia erschien. Die Via Appia ist jene Strasse, die von der Stadt Rom auf die römische Campagna – auf das Land – hinausführt. Petrus ist erstaunt, dass der Herr plötzlich vor ihm steht, und fragt ihn: „Domine, quo vadis?“, was übersetzt heisst: „Herr, wo gehst du hin“. Und der Heiland schaut Petrus an und antwortet: „Ich kehre zurück nach Rom, um mich wieder kreuzigen zu lassen.“ Dieses Mal versteht Petrus den Wink seines Herrn, kehrt in die Stadt zurück, wird verhaftet und verherrlicht Gott durch den Tod am Kreuz (dieser Gedanke ist entnommen aus dem Buch von Clemens Sonntag S.D.S., „Die ewige Stadt“, Salvator-Verlag, Rom 1983, S. 254). An diese in der Bibel nicht ausdrücklich erwähnte Szene erinnert die Kapelle „Quo vadis“, die ausserhalb der antiken Stadt an der Via Appia Antica steht. Hier greifen biblische Texte und ausserbiblische Geschichtsschreibung ineinander. Johannes kennt diese ausserbiblische Geschichte, wenn er schreibt: „Das sagte Jesus, um anzudeuten, durch welchen Tod er (Petrus) Gott verherrlichen würde“ (Joh 21,19).

Jetzt folgt die eigenartige Stelle, wo Petrus Jesus fragt, was denn mit Johannes geschehen werde. Auf dem geschichtlichen Hintergrund, dass Johannes sich sorgte, dass es Christen gab, die glaubten, dass er ewig auf Erden bleibe und die hofften, dass er die Kirche leiten werde, interpretiert sich diese Stelle von selbst. Offenbar wussten diese Christen aus mündlicher Überlieferung, dass Jesus zu Petrus gesagt hatte: „Wenn ich will, dass er bis zu meinem Kommen bleibt, was geht dich das an“ (21,22) und verdrehten nach und nach diese Aussage hin zur Überzeugung, dass Johannes nicht sterben und somit die Kirche leiten werde (Herders Bibelkommentar 1941, Bd XIII, S. 471). Petrus, der zum Zeitpunkt der Niederschrift des 21. Kapitels schon gekreuzigt worden war, konnte die Sache nicht mehr richtig stellen. Doch Johannes konnte als noch lebender Zeuge die Sache berichtigen und musste das im Moment dieser gefährlichen kirchlichen Entwicklung auch tun.

Dann folgt der endgültige Schluss des Evangeliums. In Joh 20,30-31 hiess es: „Noch viele andere Zeichen, die in diesem Buch nicht aufgeschrieben sind, hat Jesus vor den Augen seiner Jünger getan. Diese aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.“ Jetzt, in 21,25 heisst es: „Es gibt aber noch vieles andere, was Jesus getan hat. Wenn man alles aufschreiben wollte, so könnte, wie ich glaube, die ganze Welt die Bücher nicht fassen, die man schreiben müsste.“ Das tönt so wie: Ende Kapitel 20 hatte ich gesagt, dass jetzt Schluss sei, denn ich dachte, dass alles für den Glauben Wichtige gesagt war. Doch nun habe ich aufgrund eines aktuellen Problems noch etwas Wichtiges hinzugefügt – jetzt ist aber endgültig Schluss.

 

 

 

Petrus in Wort und Tat

 

Damit niemand meint, ich wolle nur mit Wortklaubereinen das Petrusamt begründen, möchte ich an dieser Stelle noch die Rolle des Petrus beleuchten anhand verschiedener biblischer Beschreibungen, wie er leibt und lebt. Da gibt es eine solche Fülle von Hinweisen, dass ich unmöglich Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Petrus ist in vieler Hinsicht ein Spezialfall von Apostel und ist v.a. jener, der führt und zusammenhält.

 

 

Wort und Tat Petri in der Apostelgeschichte

Vorerst trat Petrus nach der Himmelfahrt Christi sozusagen „intern“ auf, um das Apostelkollegium zu vervollständigen, das durch den Weggang des Judas nicht mehr der symbolträchtigen Zahl zwölf entsprach (Apg 1,15): „Und in diesen Tagen stand Petrus in der Mitte der Brüder auf und sprach…“ Er ist es, der sich verantwortlich fühlt, dass das Apostelkollegium wieder vollständig wird.

Nach der Aussendung des Heiligen Geistes tritt Petrus in der grossen Öffentlichkeit im Namen der Zwölf auf. Dies, obschon er ja bei der Auferstehung eine eher klägliche Rolle gespielt hatte – zuerste hatte er den Frauen nicht geglaubt, und als er zusammen mit Johannes ans Grab gekommen war, glaubte er immer noch nicht (Joh 20,8). Wie eingangs bezüglich der ersten Lesung am Ostermontag erwähnt, tritt er also sehr feierlich auf: „Da trat Petrus auf, zusammen mit den Elf; er erhob seine Stimme und begann zu reden“ (Apg 2,14). Da wird also eine grosse Rede feierlich eingeleitet, wobei Petrus den Vorsitz einnimmt, gestützt von den elf andern Aposteln, die bei ihm sind. Dann folgt eine der bedeutendsten Reden der Apostelgeschichte. Diese Rede ist sozusagen die Initialzündung des Christentums. 3000 Bekehrungen sind deren Frucht. Petrus ist dann auch der Redner bei der Heilung des Gelähmten im Tempel (Apg 3,1-10). Dann folgt gleich anschliessend eine Rede Petri auf dem Tempelplatz (Apg 3,12-26). Nach der Verhaftung von Petrus und Johannes ist es wiederum Petrus, der vor dem Hohen Rat redet (Apg 4,8-12).

 

Beim Betrug des Hananias ist erneut die Situation, dass die Apostel zusammen sind und Petrus redet. Hananias hatte einen Acker verkauft und brachte nur einen Teil des Erlöses zu den Aposteln. Petrus führte dann im Namen aller Apostel das Gespräch (Apg 5,2-3): „Er (Hananias) brachte nur einen Teil und legte ihn den Aposteln zu Füssen. Da sagte Petrus…“.

 

Nach der zweiten Gefangennahme werden die Apostel wiederum vom Hohen Rat einvernommen, und wieder hat Petrus den Vorsitz des Apostelkollegiums: „Petrus und die Apostel antworteten“ (Apg 5, 29).

 

Speziell hinweisen möchte ich auf die Situation, als die Apostel und die Ältesten wegen der Frage der Einhaltung der jüdischen Gesetze zusammenkamen. „Als ein heftiger Streit entstand, erhob sich Petrus und sagte…“ (Apg 15,7). Nach seiner Rede „schwieg die Versammlung“ (Apg 15,12). Danach sprachen Paulus und Barnabas, dann Jakobus. Es folgt ein gemeinsamer Beschluss (Apg 15,22). Wenn auch der Beschluss gemeinsam war – es handelte sich ja kirchengeschichtlich um das sogenannte Apostelkonzil – so hat doch Petrus die ganze Versammlung zusammengehalten. Sein Eingreifen hat Ruhe und eine anschliessend geordnete Diskussion gebracht. Möglich, dass die frühe Kirche ohne den Felsen Petrus schon hier in einem Tumult auseinandergebrochen wäre.

 

 

Wort und Tat Petri bei Paulus

Im Weiteren berichtet die Apostelgeschichte über Paulus und seine Verfolgung. Die ganze Geschichte des Paulus muss aber immer auf dem Hintergrund gelesen werden, dass Paulus nicht missionierte, ohne die Zustimmung des Petrus.

Gemäss eigener Beschreibung (Gal 1,15-18) hat Paulus nach seiner Bekehrung um die Berufung gerungen, wobei er „keinen Menschen zu Rate zog“ (Gal 1,16). Was er in Arabien gemacht hatte, schreibt Paulus nicht. Er hat dort wohl kaum missioniert, sonst hätte er, der gerne über all seine Erfolge berichtet, gewiss nicht darüber geschwiegen. Viel besser fügt es sich in die Geschichte ein, dass sich Paulus in die Wüste zurückzog, da er keinen Menschen zu Rate zog, und dann, nachdem er selber Klarheit über seine Berufung gewonnen hatte, zu Petrus ging (Gal 1, 18).

Dass er 15 Tage bei ihm blieb, ist nicht zu unterschätzen. Nirgends sonst berichtet Paulus, dass er zu irgendjemand ging, um ihn kennen zu lernen. Wenn er wohin ging, dann um zu predigen und zu missionieren. Doch bei Kephas war er gewiss nicht, um zu missionieren, sondern sich seiner Autorität zu unterstellen. Dazu passt auch der vorhergehende Vers „ich ging auch nicht sogleich nach Jerusalem hinauf“, was soviel heisst, dass er zuerst selber über seine Berufung im Klaren sein wollte. „Hinauf“ geht man dorthin, wo die Befehle erteilt werden. Wir finden diese Redeweise heute noch z.B. im Kanton Graubünden. Dort sagt man: „ich gah uf Chur ufa“ oder „uf Bern ufa“ – obschon ja Chur fast am tiefsten Punkt des Bündnerlandes liegt und Bern gar noch tiefer. Die Redewendung wird v.a. gebraucht, wenn man zum Bischof oder zur Regierung geht. Auch wenn Paulus dem Petrus selbstbewusst begegnet sein mag, schreibt er doch, dass er zu ihm hinauf ging. Die Anknüpfung an Petrus ist also für Paulus sehr wichtig.

Auch der spätere Widerspruch von Paulus dem Petrus gegenüber ist nur so zu verstehen, dass er den Petrus massregeln wollte, weil dieser durch falsches Verhalten seine eigene Autorität unglaubwürdig gemacht hatte (Gal 2, 11ff). Die Kritik an Petrus sagte er denn auch „in Gegenwart aller“ (Gal 2, 14). Da Petrus für alle massgebend war, geziemte es sich, die Kritik in Gegenwart aller anzubringen – ansonsten stünde eine solch öffentliche Zurechtweisung im Widerspruch zur Gepflogenheit, zuerst unter vier Augen und erst dann öffentlich zurechtzuweisen.

Obschon Paulus nicht gerade die stärksten Argumente für das Petrusamt liefert, finden wir auch bei ihm das Petrusamt als eine Gegebenheit, die nicht aus dem Leben der frühen Kirche wegzudenken ist.

 

 

 Wort und Tat Petri mit Jesus

Wir kennen die Stellen in den Evangelien, wo Petrus regelrecht mit Jesus diskutiert. Es gibt in allen vier Evangelien keine Stelle, wo der Herr mit einem andern Apostel in dieser Weise diskutiert. Die Regel ist: ein Apostel stellt eine Frage, Jesus gibt eine Antwort. Ende. Oder Jesus stellt eine Frage, ein Apostel gibt eine Antwort, Jesus fährt weiter mit einer Erklärung. Ende. Niemals widerspricht ein Apostel dem Herrn. Anders Petrus! In allen vier Evangelien finden wir solche Diskussionen zwischen Petrus und Jesus.

Bei Lukas findet sich jene Episode bei der Berufung, die ich bereits kommentiert habe (S. 10). Obschon die andern Jünger dabei sind, spricht Jesus ausschliesslich mit Petrus. Jesus gibt den Jüngern den Auftrag zum Fischen (Lk 5,4). Petrus widerspricht, geht dann aber doch (Lk 5,5). Petrus kommt nach dem Fischfang zur Einsicht und sagt: „Herr, geh weg von mir, denn ich bin ein sündiger Mensch!“ (Lk 5,8). Jesus beruft Petrus zum Menschenfischer (Lk 5,10), worauf ihm auch die andern folgen.

Matthäus berichtet uns die peinliche Szene, als Petrus im Übereifer Jesus übers Wasser entgegen gehen will. Das Verhältnis von Jesus zu Petrus scheint hier auf, wie das Verhältnis eines starken Vaters, der seinem übermütigen Buben klar macht, dass er eben noch nicht gross und stark ist. Petrus sagt: „…lass mich auf dem Wasser zu dir kommen!“ (Mt 14,28). Jesus sagt: „Komm!“ Petrus beginnt zu sinken und ruft: „Herr, hilf mir“ (Mt 14,30), worauf Jesus dem Ärmsten sofort hilft und ihm dabei offenbart: „Du Kleingläubiger…“ (Mt 14,31). Wer die Evangelien ein bisschen kennt, kann sich eine solche Szene mit einem andern Apostel nicht ausdenken.

Zu erwähnen ist nochmals jene Szene, als Petrus sogar Jesus beiseite nimmt und beginnt, ihm Vorwürfe zu machen (wie bereits S. 9 kommentiert). Da geht Petrus nun eindeutig zu weit und Jesus weist ihn scharf zurecht: “Geh fort, hinter mich, Satan…“ (Mt 16,23/ Mk 8,33). Dass Jesus ihn so scharf anfährt, lässt ahnen, dass Petrus hier Jesus sehr nahe kam. Niemals dürfen wir dem Herrn Vorwürfe machen, warum er was tut bzw. zulässt!

Im Johannesevangelium steht am Anfang des Letzten Abendmahles die Fusswaschung. Da finden wir ein Gespräch zwischen Jesus und Petrus, wie es mit keinem andern Jünger denkbar wäre: „Als er (Jesus) zu Simon Petrus kam, sagte dieser zu ihm: ;Du Herr, willst mit die Füsse waschen?’ Jesus antwortete ihm: ‚Was ich tue, verstehst du jetzt noch nicht; doch später wirst du es begreifen.’ Petrus entgegnete ihm: ‚Niemals sollst du mir die Füsse waschen!’ Jesus erwiderte ihm: ‚Wenn ich dich nicht wasche, hast du keinen Anteil an mir.’ Da sagte Simon Petrus zu ihm: ‚Herr, dann nicht nur meine Füsse, sondern auch die Hände und das Haupt.’ Jesus sagte zu ihm: ‚Wer vom Bad kommt, ist ganz rein und braucht sich nur noch die Füsse zu waschen. Auch ihr seid rein…“ (Joh 13,6-11). Undenkbar, dass Jesus bei der Fusswaschung mit jedem der zwölf Apostel eine solche Diskussion hätte führen müssen.

Sehr ernst ist jene Szene beim letzten Abendmahl, als Petrus eine Diskussion über seine angeblich unverbrüchliche Treue begann. Sie wird ausgelöst durch die Aussage Jesu, dass alle an ihm Anstoss nehmen werden (Mt 26,31/Mk 14,27). Petrus widerspricht (Mt 26,33/Mk 14,29). Jesus sagt ihm die Verleugnung voraus (Mt 26,34/Mk 14,30). Petrus widerspricht ihm gleich nochmals und hat in dieser Sache Jesus gegenüber sogar das letzte Wort (Mt 26,35/Mk 14,31). Ein ähnliches Gespräch zwischen Petrus und Jesus finden wir bei Johannes 13,36-38. Mit keinem andern Jünger führt Jesus in dieser Weise Diskussionen. Obschon Johannes der Lieblingsjünger von Jesus ist, ist doch Petrus jener mit einem vertraulichen, ja manchmal fast frechen Umgang.

Wie schon S. 14 erwähnt, schildert Johannes im letzten Kapitel seines Evangeliums ein langes Fragen und Antworten zwischen Jesus und Petrus (Joh 21,15-22). Ich möchte an dieser Stelle noch explizit erwähnen, dass dieser ganze Abschnitt Joh 21, 15-22 nichts anderes ist als ein Protokoll über ein Gespräch zwischen Jesus und Petrus ist.

 

 

Auftreten von Petrus vor Jesus im Namen aller Jünger

Als Jesus nach seiner Rede über sein Fleisch und Blut die Jünger fragte, ob auch sie weggehen wollten, da antwortet Simon Petrus im Namen aller Apostel: „Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte ewigen Lebens…“ (Joh 6,68)

Als Jesus seine Jünger fragte: „Für wen haltet ihr mich“ (Mt 16,15), da antwortete Simon Petrus wiederum im Namen des Apostelkollegiums: „Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes.“

In beiden bereits zitierten Stellen, sowohl bei Johannes als auch bei Matthäus, schreibt der Evangelist in feierlicher Form „da antwortete Simon Petrus“ (Name und Beiname). Kein anderer Apostel als Petrus antwortet auf eine Frage im Namen aller andern Apostel.

 

 

 

Schlussbemerkung

 

Es gäbe sicherlich noch viele andere Stellen, die man hervorheben könnte, um das Petrusamt biblisch zu begründen. Doch diese sind hier aufgeschrieben, damit alle erkennen mögen, dass das Petrusamt keine Erfindung des Mittelalters, sondern eine Einsetzung durch den Herrn ist.

 

Ist der Evangelist Markus ein Sohn des hl. Petrus?

Die Geschichte dieser Arbeit

Mitte der 90er Jahre durfte ich im Kloster Montecorona (Mönche von Bethlehem, Umbrien, Italien) meine Berufung prüfen. Die Mönche hatten ein bemerkenswertes Vorgehen. Ich schrieb 6 Kapitel des Markusevangeliums von Hand ab. Dann musste ich jene Stellen unterstreichen, die mich besonders bewegten. Dabei fiel mir auf, wie Jesus die Menschen berührt. Ein Mönch besprach mit mir meine Unterstreichungen und schickte mich daraufhin in die aktive Seelsorge zurück.

Die Art, wie Markus von den Berührungen Jesu berichtet, seine stimmungsvolle Beschreibung der Szenen, schliesslich die Beschreibung, wie Jesus die Kinder in seine Arme nimmt (etwas, das kein anderer Evangelist erzählt), liess in mir den Gedanken wachsen, dass Markus vielleicht selber eines jener Kinder gewesen sein könnte, die Jesus in seine Arme genommen hatte. Ich bewegte diesen Gedanken lange in mir, bis sich eine Gelegenheit ergab, die Sache näher zu untersuchen.

 

Bei meinen Untersuchungen wollte ich mich in die Stille zurückziehen (wie im Kloster Montecorona). Dabei wollte ich nur die Bibel und verschiedene Übersetzungshilfen bei mir haben, um so möglichst eine Gesamtschau zu erlangen. Ich wollte in der Stille prüfen, ob sich das Markusevangelium mit der Annahme lesen lässt, dass Markus sein Evangelium als Kindheitserinnerung aufgeschrieben hatte. Im Laufe meiner Untersuchungen kam ich zum Schluss, dass dies für Mk 1,29 bis Mk 10,32 zutrifft. Sodann stellte sich die Frage, ob es Hinweise gibt, dass er ein leiblicher Sohn des Petrus gewesen sei. Ich konnte feststellen, dass Markus in einer leiblichen Abhängigkeit zu Petrus stand, jedoch eher als Pflegesohn, kaum als leiblicher Sohn.

 

Ich danke Bischof Vitus Huonder herzlich, der mir gewährt hat, anstelle des Vierwochenkurses meine Zeit dieser wertvollen Betrachtung zu widmen. Dr. bibl. Reto Nay danke ich für die Durchsicht meiner Arbeit und seine Anregungen und Korrekturen.

 

 

 

Meine Vorgehensweise

Um die spezielle Art von Markus herauszufinden, habe ich ihn mit Matthäus verglichen und festgestellt, dass Markus von 1,29 bis 10,32 fast immer ausführlicher schreibt als Matthäus. Ich kam zur Annahme, dass Markus das Matthäusevangelium gekannt hatte und insbesondere jene Szenen in eigenen Worten und Ergänzungen nochmals wiedergeben wollte, die seiner Ansicht nach bei Matthäus zu emotionslos, bzw. zu wenig detailliert beschrieben waren. Dieser Spur folgend, leuchtet Markus im Vergleich zu Matthäus auf in seiner berührenden Art. Das Markusevangelium wird vom Klischee befreit, das kürzeste und „ursprünglichste“ Evangelium zu sein. Matthäus erscheint in diesem Vergleich als abgeklärter, gelehrter Herr, der sich nicht so sehr für Gesten und Stimmungen interessiert. Matthäus kann somit auch entdeckt werden als jener, der die äusserlichen Begebenheiten kurz und knapp umreisst, um dann umso mehr die Worte Jesu aufzuzeigen und zu kommentieren.

 

Bei diesem Vergleich fällt des weitern auf, dass Markus oft die Nähe Jesu zu den Menschen und sein Mitgefühl beschreibt. Auch sind ihm Stimmungen und Emotionen wichtig. Sodann interessieren ihn in bubenhafter Weise technische Details.

 

Jene Details, von denen ich den Eindruck habe, dass sie typisch sind für Markus und denen Matthäus in der Regel keine Beachtung schenkt, schreibe ich jeweils fettgedruckt: intensive Nähe Jesu, Berührungen, Vertraulichkeit (oft verbunden mit sich-entfernen von der Menge), Beschreibung von Emotionen, Wiedergabe besonders tief gehender (mit Emotionen verbundener) Worte Jesu in der Originalsprache, technische Details und Beschreibung konkreter Umstände, plastische Beschreibung grosser Volksmengen.

Dann gibt es noch eine Besonderheit: Markus nimmt Petrus in seinen Beschreibungen zurück. Dies scheint mir ein Indiz zu sein, dass Markus zu Petrus in leiblicher Abhängigkeit war.

 

Im Folgenden gehe ich der Reihe nach die Szenen im Markusevangelium durch, ohne Anspruch auf Wissenschaftlichkeit im heutigen Sinne und ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Die Überschrift jener Szenen, bei denen der Charakter von Markus besonders aufscheint, hebe ich ebenfalls fettgedruckt hervor. Wo eine Schilderung sehr auffällig ist, versehe ich die Überschrift zusätzlich mit einem Ausrufezeichen.

 

Mögen meine Gedanken dazu anregen, das Markusevangelium als kindlich-gesamtheitliche Wahrnehmung des Wirkens Jesu und als lebendiges Zeugnis seiner Wundertaten zu entdecken!

 

 

 

Wissenschaftliche Bemerkungen

Ich habe keine lesbare Bibelübersetzung gefunden, die sich zuverlässig an den griechischen Text hält. Bedauerlich dabei ist die heute verbreitete Einheitsübersetzung. Stellenweise ist sie vom griechischen Text so weit entfernt, dass sie eher einer Erfindung als einer Übersetzung gleicht. So dient als Grundlage der vorliegenden Arbeit die Interlinearübersetzung „Das neue Testament, Griechisch-Deutsch“ (Hänssler-Verlag, Neuhausen-Stuttgart 1987) – teilweise unter Beizug von „Sprachlicher Schlüssel zum Griechischen Neuen Testament“ (Fritz Rienecker, Brunnen-Verlag 1970). Manchmal entnehme ich den Text der Synopse von Josef Schmid, der sich seinerseits auf das Regensburger Neue Testament abstützt (Josef Schmid, Synopse der drei Evangelien, Regensburg 1964). Manchmal stütze ich mich auf die Übersetzung der Jerusalemer Bibel (übersetzt von Diego Arenhoevel, Alfons Deissler und Anton Vögtle, Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 1969). Selten dient die Einheitsübersetzung. So kann es vorkommen, dass ich einer der genannten Übersetzungen folge, dabei aber ein Wort oder einen Teilsatz direkt dem Griechischen entnehme.

 

Für griechische Zitate (in eckigen Klammern) sowie für deren deutsche Übersetzung verwende ich in der Regel die oben genannte Interlinearübersetzung – teilweise unter Beizug von „Sprachlicher Schlüssel zum Griechischen Neuen Testament“. Damit die griechischen Wörter auch für Nicht-Kenner des griechischen Alphabetes lesbar sind, verwende ich dazu unsere gebräuchlichen Buchstaben: a = Alpha, b = Beta, g = Gamma, d = Delta, e = Epsilon, z = Zeta, ä = Eta, th = Theta, i = jota, … x = Xi, o = O-mikron, … t = tau, ü = Ypsilon, f = Phi, ch = Chi, ps = Psi, oo = O-mega. ou = u. Den Spiritus asper schreibe ich als h, den Spiritus lenis lasse ich weg. Auf diese Weise können auch jene, die von Griechisch keine Ahnung haben, sehen, wie der griechische Wortlaut oft onomatopoetischen Charakter hat (das Wort stellt, indem man es laut liest, die Sache dar, die es bezeichnet). In gewissen Fällen sind die griechischen Wörter auch nahe den Schweizerdeutschen Wörtern.

 

{ }      bedeutet Parallelstelle bei Matthäus

[ ]       bedeutet griechisches Zitat

 

Mk 1,1-8: Johannes der Täufer {Mt 3,1-12}

Das Auftreten und die Predigt des Johannes des Täufers scheint Markus mehr der Vollständigkeit halber zu schreiben. Es scheint mir, dass er die Erzählung von Matthäus übernimmt und kürzt.

Mk 1,12-13: Jesus in der Wüste {Mt 4,1-11}

Der Dialog zwischen Jesus und dem Teufel interessiert Markus entweder nicht, oder er denkt sich, dass der Bericht von Matthäus genügt. Über eine Einzelheit Jesu in der Wüste berichtet Markus, über welche die andern Evangelisten schweigen: „…Und er war bei den wilden Tieren, und die Engel dienten ihm.“ (Mk 1,13). Die Erwähnung der wilden Tiere und die unmittelbare Gegenüberstellung der dienenden Engel entspricht einem kindlichen Gemüt.

 

 

 

! Mk 1,29 – 31: Heilung der Schwiegermutter des Petrus {Mt 8,14-15}

Erstmals begegnen wir hier einer Szene, über die Markus beinahe doppelt so viel schreibt wie Matthäus. Im Folgenden wird sich zeigen, dass das bei Berichten über Heilungen der Normalfall ist. Bei der Heilung der Schwiegermutter des Petrus scheint erstmals auf, wie Markus betont, dass Jesus die Menschen nicht nur berührt, sondern intensiv berührt. Während Matthäus in schlichter Weise schreibt: „Da berührte [äpsato] er ihre Hand, und das Fieber verliess sie. Sie stand auf und diente ihm.“ (Mt 8,15), schreibt Markus in intensiverer und detaillierterer Art: „Da ging er zu ihr, fasste [kratäsas] sie bei der Hand und richtete sie auf. Da verliess sie das Fieber, und sie diente ihnen.“ (Mk 1,31). Zu bemerken ist, dass auch Lukas diese Szene eindrücklich beschreibt: „Er beugte sich über sie, drohte dem Fieber, und es verliess sie. Sogleich stand sie auf und diente ihnen.“ (Lk 4,39).

 

Auch berichtet Markus die Umstände dieser Szene genauer. Matthäus sagt nur: „Und in das Haus des Petrus kam Jesus und sah dessen Schweigermutter fieberkrank daniederliegen.“ (Mt 8,14). Markus schreibt: „…ging er in das Haus des Simon und Andreas, mit Jakobus und Johannes.“ (Mk 1,29). Hier scheint etwas auf, das im Markusevangelium wiederholt vorkommt, und das ein Hinweis darauf sein könnte, dass Markus ein Sohn des Petrus im materiellen (und nicht nur im geistigen) Sinne sein könnte: Markus hebt den Petrus nicht hervor, sondern er verbirgt ihn mit Fleiss, indem er

  • 1. ihn nicht Petrus, sondern Simon nennt,
  • 2. klar macht, dass das Haus nicht ihm allein, sondern auch seinem Bruder Andreas gehört,
  • 3. gleich alle vier Apostel erwähnt, die in diesem Moment zugegen waren.

Matthäus dagegen scheut sich nicht, Petrus in den Mittelpunkt zu stellen.

 

 

 

! Mk 1,32 – 34: Die Heilungen vor dem Haus des Petrus {Mt 8,16}

Markus ist tief beeindruckt vom ungeheuren Zulauf vor dem Haus des Simon und Andreas:

Die ganze Stadt war an der Türe versammelt.“ (Mk 1,33). Dieser Satz fehlt bei den andern Evangelisten. Matthäus schildert die Szene äusserst kurz (nur ein Vers), fügt dann aber ein Zitat aus dem Buch Jesaja an. Das ist typisch für Matthäus; die Beschreibung von Äusserlichkeiten hält er kurz, fügt dann aber in Eigenregie alttestamentliche Bezüge an und zeigt, dass sich in dem, was Jesus tut, die Prophezeiungen über den Messias verwirklichen, die Jahrhunderte zuvor niedergeschrieben wurden.

! Mk 1,40 – 45: Die Heilung des Aussätzigen {Mt 8,2-4}

Markus widmet dieser Szene 6 Verse, Matthäus 3.

 

Die Heilung des Aussätzigen beschreibt Markus bewegter als die andern. „Da streckte er erbarmungsvoll seine Hand aus, berührte ihn und sprach zu ihm: „Ich will, werde rein.“ Und sofort wich der Aussatz von ihm, und er wurde rein. Und Jesus fuhr ihn heftig an und jagte ihn gleich fort und sagte zu ihm: ‚Hüte dich, jemandem etwas davon zu sagen…’ Der aber ging weg und fing an, die Geschichte mit Eifer bekanntzumachen und herumzureden.“ (Mk 1,41-45). Das Mitleid Jesu erwähnt Matthäus nicht. Dass Jesus ihn heftig anfährt, gibt Matthäus lediglich mit den Worten wieder: „Da sagte Jesus zu ihm“. Es scheint mir, dass Markus erschüttert war über die Oberflächlichkeit des Geheilten. Dieser Geheilte sah nur das augenscheinliche Wunder seiner Heilung und begriff nicht, wie gross das Mitleid Jesu war, aus dem heraus er ihn geheilt hatte (Gedanke von Hans Buob in einer seiner Sonntagspredigten). Markus wiedergibt das Mitleid Jesu, seine tiefe Erschütterung und schliesslich das Herumschwatzen [kärüssein pollà] des Geheilten plastisch.

 

 

 

!! Mk 2,1 – 12: Abdeckung des Daches und Heilung {Mt 9,1-8}

Markus widmet dieser Szene 12 Verse, Matthäus 8.

 

Wie damals, als er zum ersten Mal im Haus des Simon und Andreas war (Mk 1,32 – 34), so wird auch hier berichtet: „Da strömten viele zusammen, so dass der Platz nicht mehr reichte, auch nicht einmal vor der Türe.“ (Mk 2,2). Ich kann mir gut vorstellen, dass der Bub Markus immer wieder neu von den ungeheuren Menschenmassen beeindruckt war und diesen Eindruck später in seinem Evangelium niederschrieb. Matthäus schreibt an dieser Stelle kein Wort über die Menschenmenge.

 

Sodann ist für Markus die Beschreibung der äusseren Umstände wichtig: „Da kamen Leute und brachten einen Gelähmten zu ihm, der von vieren getragen wurde. Und als sie ihn wegen der Menge nicht bis zu ihm hinbringen konnten, deckten sie das Dach ab, wo er war, brachen es durch und liessen die Bahre hinab, worauf der Gelähmte lag.“ (Mk 2,3-4). Was Markus detailliert beschreibt, berichtet Matthäus knapp: „Und siehe, sie brachten ihm einen Gelähmten, der auf einer Bahre lag.“ (Mt 9,2a). Für Matthäus sind technische Details unbedeutend. Markus dagegen schreibt wie ein Bube über die technischen Details. Der Leser kann sich die Szene bildlich vorstellen. Zuerst wird das Dach abgedeckt und dann die Decke – das Unterdach – durchgeschlagen. Der griechische Text lautet: „sie deckten ab [apestégasan] das Dach [stégän]… und ausgegraben habend (den Lehm) [exorüxantes], lassen sie herab das Bett.“

Nicht einmal Lukas, der sich – wie mir scheint – eher am Markus- als am Matthäustext orientiert, beschreibt diese Details, wie sie die Bahre durch das Dach und die Decke hinunter lassen.

 

Das Gespräch mit den Schriftgelehrten und die Worte Jesu an den Gelähmten unterscheiden sich nicht wesentlich von Matthäus. Dann aber die Heilung selbst. Da nimmt es Markus wieder genau: „Und er stand auf, nahm seine Bahre und ging sogleich vor aller Augen hinaus…“ (Mk 2,12). Lukas lehnt sich auch hier eher an Markus als an Matthäus.

 

Bemerkung: Aufgrund dieser Erzählung möchte ich folgende Annahme über die Niederschrift der Evangelien in den Raum stellen:

  • Matthäus war als Apostel bei diesem Ereignis dabei und hat später als erster aufgeschrieben, was er erlebt hat. Dabei interessierte er sich über die Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten und wollte zeigen, dass Jesus Sünden vergeben und heilen kann. Die grosse Menschenmenge, technische Details, ja auch dass die Heilung in einem Haus geschah, findet er unwesentlich und will damit seinen Evangelientext nicht belasten.
  • Markus hat das Ereignis in jenem Alter erlebt, wo Buben von äusseren Begebenheiten wie Menschenansammlungen und von technischen Details, wie man ein Bett durch ein Dach hinunter bringt, beeindruckt sind. Diese Eindrücke sind ihm geblieben und er hat deren Schilderung vermisst, als er das Matthäusevangelium später las. So hat er die ganze Szene mit den Details, die ihm tief emotional im Gedächtnis waren, nochmals wiedergegeben und dabei geachtet, dass er das, was Matthäus geschrieben hat, nicht kürzt.
  • Lukas hat dann noch später sozusagen als Systematiker die beiden Texte vereint und macht noch eine kleine, aber wesentliche Anfügung, dass der Geheilte „Gott preisend“ heim ging (Lk 5,25).

Eine solche Schau kommt wohl näher an die Überzeugungen der Väter, als die hartnäckig gehaltene Theorie, dass das Markusevangelium vor Matthäus geschrieben worden war. Wenn dann gar in Vorworten von verbreiteten Bibelausgaben Jahreszahlen über die Abfassung der Evangelien genannt werden, dann ist das etwa gleich unwissenschaftlich, wie wenn in Biologiebüchern affenähnliche Menschen abgebildet werden, von denen nie je ein vollständiges Skelett gefunden worden ist.

 

 

! Mk 2,13-17: Berufung des Levi und Mahl mit den Zöllnern {Mt 9,9}

Bei der Berufung des Levi bzw. des Matthäus weist Markus wieder auf die grosse Menschenmenge hin: „Und alles Volk kam zu ihm, und er lehrte sie.“ Dieser Hinweis fehlt bei Matthäus. Ebenso bei der Erzählung des nachfolgenden Mahls: „…und viele Zöllner und Sünder lagen zu Tische mit Jesus und seinen Jüngern. Denn es waren viele, die ihm nachfolgten…“. Das Berichten über die Menge der Menschen ist Markus ein Anliegen.

Matthäus fasst diese Szene kurz, da es sich nicht ziemt, über sich selber ausführlich zu schreiben.

 

Im Hinblick auf die Person des Matthäus möchte ich darauf hinweisen, dass keiner der Apostel so prompt Jesus gefolgt ist, wie er. Matthäus und Markus stimmen in dieser knappen Berufungsgeschichte wörtlich überein, was bis hin auf das kleinste griechische Zeichen so selten vorkommt: „[kai legei autoo] und (Jesus) sagt zu ihm: [akoluthei mu!] Folge mir! [kai anastas, äkoluthäsen autoo] und aufgestanden, folgte er ihm.“ (Mt 9,9b absolut identisch mit Mk 2,14b). Als Jesus die Fischer berief, da wurde immerhin gesagt, dass sie ihre Netze und ihren Vater zurückliessen. Kommt dazu, dass das Verlassen eines Fischerbootes nicht dieselbe Dimension hat wie das Verlassen eines Zollhauses. Die Fischer konnten sich rein menschlich gesehen einen Aufstieg ausrechnen, während Matthäus als reicher Zollpächter weit mehr riskierte. Meine Vermutung geht dahin, dass Matthäus in diesem Moment realisierte, dass Jesus der König ist, den Herodes vor knapp 28 Jahren töten wollte. Ich komme unter dem Titel „Bemerkungen zu Matthäus“ S. 54 ausführlich darauf zurück!

 

 

 

Mk 2,18-22: Fastenfrage {Mt 9, 14-17}

Bei diesem Abschnitt kann ich keine typische Besonderheit bei Markus ausmachen. Doch möchte ich hier nur bemerken, dass Matthäus diesem Abschnitt 4 Verse widmet, Markus 5 Verse und Lukas 7 Verse (Lk 5,33-39). Matthäus hat also auch hier die kürzeste Fassung.

 

 

 

Mk 2,23-28: Die abgerupften Ähren {Mt 12,1-8}

Hier ist Matthäus eindeutig ausführlicher als Markus. Schliesslich geht es hier um eine typische jüdische Frage des Sabbatgebotes. Da führt Matthäus sein Protokoll über das Gespräch zwischen Jesus und den Pharisäern ausführlicher als Markus, der als Kind nicht so sehr interessiert war an diesen Streitfragen und sich dann später wohl denkt, dass die Erzählung von Matthäus genügt.

 

! Mk 3,1-6: Heilung der verdorrten Hand {Mt 12,9-14}

Diese Szene umfasst im Markusevangelium gleich viele Verse wie bei Matthäus.

 

Die beiden Berichte können kaum miteinander verglichen werden. Die gleiche Szene wird mit verschiedenen Interessen wiedergegeben. Matthäus protokolliert das Gespräch mit den Pharisäern (Mt 12,9-14). Markus berichtet dabei über das Empfinden Jesu: „Er blickte sie ringsherum zornig an, betrübt über die Verhärtung ihres Herzens…“ (Mk 3,5).

Während Matthäus als Apostel vielmehr den Inhalt des Gesprächs wahrnahm (und ihm dieses auch in Erinnerung blieb), hat Markus als Kind vielmehr die Stimmung wahrgenommen – was ihm dann später auch in Erinnerung blieb. Auch das argwöhnische Beobachten der Pharisäer fehlt bei Matthäus. Markus schreibt: „Sie beobachteten ihn, ob er ihn am Sabbat heilen würde, damit sie ihn anklagen könnten.“ (Mk 3,2)

! Mk 3,7-12: Andrang des Volkes {Mt 12,15-21}

Menschenmassen und Heilungen; hier ist Markus in seinem Element!

Markus beschreibt die Volksmenge, so dass man sich diese sehr konkret vorstellen kann. Auch scheint hier wieder das Thema auf, dass die Menschen Jesus berühren. Die Einleitung der Szene fällt bei Matthäus schlicht aus: „Und viele folgten ihm.“ Markus dagegen schreibt: „Eine zahlreiche Menge aus Galiläa folgte ihm. Auch aus Judäa und aus Jerusalem, aus Idumäa und von jenseits des Jordans sowie aus der Gegend von Tyrus und Sidon kam eine zahlreiche Menge zu ihm… Da sagte er zu seinen Jüngern, es solle ein Boot für ihn bereitliegen wegen der Menge, damit sie ihn nicht drängten. Denn er heilte viele, so dass alle, die von Leiden geplagt waren, sich auf ihn stürzten, um ihn anzurühren.“ In dieser Schilderung sieht man förmlich die staunenden Augen eines Buben, der alle Eindrücke tief in sich hinein nimmt. Dieser Jesus, der ein enger Vertrauter seines (Pflege)Vaters ist, dieser Jesus ist so begehrt von den Menschen. Nicht nur das mit Augen und Ohren wahrgenommene bleibt tief im Gedächtnis des Markus. Er war in diesem Moment wohl ausser sich vor Staunen, woher die Leute überall kamen und wie viele es waren.

Dieses Gefühl des Ergriffenseins über das, was da abging, wird auch noch im Erwachsenenalter dem Evangelisten Markus gegenwärtig gewesen sein, so dass er es uns in jener Lebendigkeit vermitteln kann, wie nur ein Kind mit Leib und Seele erzählen kann.

 

 

 

! Mk 3,13-19: Berufung der 12 Apostel {Mt 13,18-23}

Auch hier fällt die Ausführlichkeit des Markus auf: Matthäus widmet dieser Szene 4 Verse, Markus 7 Verse und Lukas 5. Also auch hier hat Matthäus die kürzeste Fassung! Allerdings fügt Matthäus dann noch etliche Verse an u.a. mit der Weisung, nicht zu den Heiden zu gehen.

 

Vorerst erzählt Markus, wie Jesus von der Menge weggeht: „Und er stieg auf den Berg hinauf und rief die zu sich, die er selbst wollte, und sie kamen zu ihm. Und er bestellte Zwölf, dass sie mit ihm zusammen seien und dass er sie aussende…“ (Mk 3,13-14). Dieses von der Menge Wegrufen, um dann mit ihnen zusammen zu sein, finden wir bei Markus immer wieder.

 

Eigenartig ist die Formulierung bezüglich der Berufung des Simon Petrus: „Und er bestellte also die Zwölf und er gab dem Simon den Beinamen Petrus, und Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und Johannes.…“ (Mk 3,16) – als ob die Berufung des Petrus von vornherein klar gewesen wäre, bevor die andern 11 zu wissen bekommen, dass auch sie dazugehören. Der Simon gehört sozusagen von Anfang an zu Jesus. Er wird nicht formell berufen, wie die andern 11, sondern bekommt direkt seinen Beinamen Petrus.

Bei Matthäus wird Petrus in die Aufzählung eingereiht (er steht gewohnheitsgemäss wie bei Markus und Lukas an erster Stelle): „Die Namen der zwölf Apostel sind diese: zuerst Simon, genannt Petrus, und sein Bruder Andreas, und Jakobus…“ (Mt 10,2). Matthäus hebt Petrus gröber hervor, während Markus ihn in seiner speziellen Art der Aufzählung zu verbergen sucht.

Lukas verzichtet auf eine spezielle Hervorhebung des Petrus – er hat dies im 5. Kapitel Vers 3-10 schon zu Genüge getan.

 

 

 

! Mk 3,20-21: Viel Volk – die Mutter Jesu und seine Brüder

Diese Szene, wo die Verwandten Jesu sagen, „er ist von Sinnen“ (Mk 3,21) und sich seiner „bemächtigen“ wollen, finden wir so nur bei Markus (nicht zu verwechseln mit Mk 3,31-35, das seine Parallele findet in Mt 12,46-50). Markus hebt dabei die emotional geladene Stimmung hervor. Zudem fällt auf, dass auch hier Markus wieder die ungeheuerliche Volksmenge betont: „Und er kam nach Hause. Und wieder kommt die Menge zusammen, so dass sie nicht einmal Speise essen konnten.“ (Mk 3,20).

Vorerst ist da einmal der Jammer, dass sie nicht essen konnten. Das passt zum bodenständigen Petrus! Sodann fällt aber auch wiederholt auf, dass Markus davon spricht, dass Jesus nach Hause kommt und wiederum viel Volk zusammenkommt. Das würde zur Annahme passen, dass Markus bei Petrus zuhause ist und so eben Jesus immer wieder „nach Hause“ kommt. Dabei war Markus jedes Mal beeindruckt, dass das Haus von Menschen überfüllt wurde, sobald Jesus wieder da war.

 

 

 

Mk 4,1-34: Gleichnisse {Mt 13,1-52}

Bei der Wiedergabe der Gleichnisse ist Markus eher knapper als Matthäus und beschränkt sich auf weniger Gleichnisse.

 

Bemerkenswert ist der Abschluss der Gleichnisse bei Markus: „Ohne Gleichnisse aber redete er nicht zu ihnen. Seinen Jüngern aber erklärte er alles, wenn sie mit ihm allein waren. “ [kat idian] d.h. für sich. (Mk 4,34). Diese abschliessende Bemerkung fehlt bei Matthäus. Das intime Zusammensein mit dem engeren Kreis beeindruckte Markus offenbar mehr als Matthäus.

 

 

 

! Mk 4,35-41: Stillung des Seesturms {Mt 8,23-27}

Hier kommt Markus wieder in sein Element. Auffallend ist schon äusserlich: Markus widmet der Szene 7 Verse, Matthäus 5, Lukas 4.

 

Markus betont wiederum, dass Jesus jetzt wieder mit den Seinen allein war: „Die Menge verlassen habend, nehmen sie ihn, so wie er war, im Boot mit…“ (Mk 4,36). Dann folgt die Beschreibung des Sturms – wie zu erwarten bei Markus mit mehr Details als bei Matthäus: „Da erhob sich ein heftiger Sturmwind, und die Wellen schlugen ins Boot, so dass das Boot sich schon füllte. Und er (Jesus) war im Heck auf dem Kopfkissen schlafend.“ Das Kopfkissen finden wir nur bei Markus!

Die Reaktion der Jünger auf die Stillung des Sturmes ist bei Markus emotionaler als bei Matthäus: Mt 8,27: „Die Leute aber verwunderten sich…“. Mk 4,41: „Da befiel sie grosse Furcht…“

 

!! Mk 5,1-20: Der Besessene von Gerasa {Mt 8,28-34}

Markus widmet der Szene 20 Verse, Matthäus 7, Lukas 14.

 

Hier scheint geradezu extrem, dass Matthäus nur das theologisch relevante schildert, Markus schildert dagegen viele Eindrücke.

 

Dass Markus von einem Besessenen berichtet, Matthäus jedoch von zwei, könnte daher kommen, dass einer dieser beiden sehr viel eindrücklicher war und sich deshalb Markus später nicht mehr daran erinnert, dass da noch ein zweiter war. Er schildert den tiefen Eindruck, den ihm dieser Mann hinterlassen hatte: „…und nicht einmal mit Ketten vermochte ihn noch jemand zu fesseln, denn er war schon oft mit Fussfesseln und Ketten gebunden worden. Aber er hatte die Ketten gesprengt und die Fussfesseln zerrieben. Und niemand war imstande, ihn zu bändigen. Immerfort, bei Nacht und bei Tage, war er in den Grabhöhlen und auf den Bergen, stiess Schreie aus und zerschlug sich mit Steinen. Als er nun Jesus von ferne sah, lief er und warf sich vor ihm nieder und schrie mit lauter Stimme: …“ (Mk 5,3-7) „Da fuhren die unreinen Geister aus und fuhren in die Schweine, und die Herde stürmte den Abhang hinab in den See, an zweitausend Stück, und ertranken…“ (Mk 5,13). Den fettgedruckten Passagen kann man kindliches Staunen entnehmen.

 

Auch, dass dieser furios Besessene nun ganz anders war, beeindruckte Markus zutiefst. Dementsprechend schreibt er: „und sie…sahen den Besessenen…bekleidet und vernünftig dasitzen; und sie fürchteten sich.“ (Mk 5,15). Matthäus schreibt gar nichts darüber, wie der Befreite nun aussah; theologisch ist das ja nicht wichtig. Doch der in Markus hinterlassene Eindruck bewegt ihn später wohl, das zu schildern.

 

Bemerkenswert ist, was Jesus abschliessend zum Befreiten sagt (davon schildert Matthäus nichts): „Geh nach Hause zu den Deinen und erzähle ihnen, was der Herr Grosses an dir getan und sich deiner erbarmt hat.“ Den von Aussatz Geheilten hatte Jesus heftig angefahren, er solle sich hüten, jemandem etwas zu sagen (Mk 1,44). Hier verhält es sich insofern anders, als sich der ehemals Besessene der geistigen Hintergründe sehr wohl bewusst ist. Während der Aussätzige vermutlich nur ein oberflächliches geistliches Leben führte und deshalb aus der Heilung eine reine Sensation machte, hatte der mit der Legion von Dämonen Besessene ein intensivstes geistliches Leben geführt – wenn auch negativ und dramatisch. So war anzunehmen, dass er die geistliche Dimension der Befreiung voll und ganz begriff und deshalb auch in richtiger Weise davon berichten konnte: „Er fing an zu verkünden, was Jesus Grosses an ihm getan hatte. Und alle gerieten in Staunen.“ (Mk 5,20). Er weckte also bei den Menschen nicht den ‚Gwunder’, wie das der von Aussatz Geheilte tat, sondern die Menschen gerieten in Staunen. Jesus will keine Sensation, er will das Staunen, das zum Glauben führt.

 

 

 

!! Mk 5,21-43: Heilung der blutflüssigen Frau und Auferweckung der Tochter des Jaïrus {Mt 9,18-26}

Markus widmet der Szene 23 Verse, Matthäus 9, Lukas 17.

 

Es beginnt damit, dass Markus wiederum die Volksmenge schildert, welche Matthäus nicht erwähnt: „Und als Jesus im Boote wieder ans andere Ufer hinübergefahren war, versammelte sich eine grosse Volksmenge um ihn…“ (Mk 5,21). Drei Verse später gleich nochmals: „Da ging er mit ihm und eine grosse Menge folgte ihm und umdrängte ihn.“ (Mk 5,24).

 

Und dann tritt die Frau mit dem Blutfluss an ihn heran. Matthäus schreibt schlicht: „Und siehe, eine Frau, die seit zwölf Jahren an Blutfluss litt, trat zu ihm hin und berührte von hinten die Quaste seines Gewandes.“ (Mt 9,20). Markus fügt hinzu: „…die seit zwölf Jahre an Blutfluss litt und vieles gelitten habend von vielen Ärzten und ausgegeben habend ihr ganzes Vermögen, ohne dass es etwas genützt hätte, sondern mehr in das Schlimmere gekommen war…“ (Mk 5,26). Lukas schreibt lediglich „…die seit zwölf Jahren an Blutungen litt und von niemandem Heilung fand“ (Lk 8,43). Immerhin erwähnt Lukas die vergeblichen Bemühungen der Frau, während Matthäus auch diesem Umstand überhaupt keine Beachtung schenkt.

 

Dann beschreibt Markus die Heilung: „Und sofort versiegte der Quell ihres Blutes, und sie spürte es an ihrem Körper, dass sie von ihrem Leiden geheilt sei.“ (Mk 5,29). Weder Matthäus noch Lukas erzählen von diesem Spüren der Frau.

 

Matthäus fährt dann kurz und bündig fort: „Jesus aber wandte sich um, und als er sie sah, sprach er…“ (Mt 9,22). Markus beschreibt hingegen dieses Umwenden Jesu mit allen dazugehörigen Details: „Und sogleich merkte Jesus an sich, dass eine Kraft von ihm ausgegangen war, wandte sich in der Menge [ochloo] um und sprach: ‚Wer hat meine Kleider berührt?’ Da sagten seine Jünger zu ihm: ‚Du siehst doch, wie die Menge dich umdrängt, und du sagst: Wer hat mich angerührt?’ Und er blickte umher, um die zu sehen, die es getan hatte. Die Frau aber, in Furcht geraten und zitternd, im Bewusstsein dessen, was an ihr geschehen war, kam, fiel vor ihm nieder und sagte ihm die ganze Wahrheit. Er aber sprach zu ihr…“ Lukas scheint sich an Markus anzulehnen – weil dieser genauer ist.

 

Auch das Protokoll über das, was Jesus zur Frau sagt, ist bei Matthäus knapp: „Sei guten Mutes [tharsei], Tochter, dein Glaube dich gerettet.“ (Mt 9,22). Markus protokolliert genauer: „Tochter, dein Glaube hat dich gerettet; geh hin in Frieden und sei gesund von deinem Leiden.“ (Mk 5,34). Auch Lukas gibt das „gehe hin in Frieden“ (Lk 8,48) wieder.

 

Dann folgt die Heilung der Tochter des Jaïrus, wieder im üblichen Verhältnis der Ausführlichkeit: Markus 9 Verse, Matthäus 4, Lukas 8 (Lukas lehnt sich eher an Markus als an Matthäus).

Nach den Worten Jesu an die geheilte Frau kehren alle drei Evangelisten zum Geschehen des Jaïrus und seiner Tochter zurück, wobei Matthäus unvermittelt da weiterfährt, wo Jesus beim Haus des Jaïrus ankommt. Markus (und ähnlich Lukas) berichtet jedoch: „Während er noch redete, kamen Leute des Synagogenvorstehers und sagten: ‚Deine Tochter ist gestorben. Was bemühst du den Meister noch?’ Jesus aber, der nebenher hörte, was gesprochen wurde, sagte zu dem Synagogenvorsteher: ‚Fürchte dich nicht, glaube nur!’ Und er liess niemand mit sich mitgehen, ausser den Petrus, Jakobus und Johannes…und er nimmt Lärm wahr und Weinende und vielfach WehklagendeEr aber, alle hinausgetrieben habend, nimmt zu sich den Vater des Kindes und die Mutter sowie seine Begleiter…“. Markus betont die Intimität des Geschehens, weg von der Menge.

Dann kommt jene Szene, die Markus ergreifend schildert: „Und er ergriff die Hand des Kindes und sprach zu ihr: „Talita kum“…Und sogleich stand das Mädchen auf und ging umher; es war nämlich zwölf Jahre alt…“ Die zentralen Worte Jesu wiedergibt Markus im originalen Wortlaut, sodass der Leser etwas von der Stimmung mitbekommt, die da war.

Nun folgt die Weisung Jesu, über die Matthäus schweigt: „Er aber befahl ihnen vielfach, dass niemand dies erfahre, und er gebot, man solle ihr zu essen geben.“ Diese letzte Bemerkung ist übrigens wichtig auch bei Heilungen in unserer Zeit. Gelähmte, die geheilt werden, haben Hunger, grossen Hunger. Vor lauter Staunen und womöglich noch vor lauter Untersuchungen vergisst man, ihnen zu essen zu geben.

! Mk 6,1-6 Jesus in seiner Vaterstadt {Mt 13,53-58}

Zwar widmet Matthäus dieser Szene gleich viele Verse wie Markus, doch die Verse bei Markus sind länger und zwar im Verhältnis 5:4.

 

Markus schreibt, wie Jesus zusammen mit seinen Jüngern kommt und beschreibt dann wieder die Menschenmenge, über die Matthäus schweigt: „…und (Jesus) kam in seine Vaterstadt, und seine Jünger folgten ihm. Und als der Sabbat gekommen war, begann er in der Synagoge zu lehren, und die Vielen, die ihm zuhörten, staunten…“ (Mk 6,2).

 

Matthäus schreibt dann in der Folge der Ablehnung Jesu, dass er dort „nicht viele Machttaten“ wirken konnte (Mt 13,58). Markus präzisiert, indem er die Berührung der Kranken durch Jesus erwähnt: „Er konnte dort nicht eine Machttat wirken, nur einigen Kranken legte er die Hände auf und heilte sie.“ Damit sagt er, dass er im Hinblick auf das Volk überhaupt nichts wirken konnte; was er tat, das tat er aus einem ganz persönlichen Erbarmen gegenüber den Kranken, die ja nichts dafür können, dass er vom Volk abgelehnt wird.

 

Abschliessend weist Markus auf die Emotion Jesu hin: „Und er wunderte sich über ihren Unglauben…“, während Matthäus über diese Verwunderung Jesu schweigt (Mt 13,58).

 

 

 

! Mk 6,7-13: Aussendung der Zwölf {Mt 10,5-16}

Es ist nicht klar, ob die beiden Evangelisten hier über dieselbe Szene berichten. Jedenfalls finden wir nur bei Markus, dass Jesus die Jünger „paarweise“ (Mk 6,7) aussendet. Auch dass die Jünger die Kranken mit Öl salbten, finden wir nur bei ihm: „sie…salbten viele Kranke mit Öl und heilten sie.“ (Mk 6,13).

Mk 6,14-16: Herodes über Jesus {Mt 14,1-2}

Erstaunlich, dass auch diese Erzählung bei Markus beinahe doppelt so ausführlich ist wie bei Matthäus.

 

Matthäus berichtet nur, was Herodes von Jesus hält. Markus dagegen weist auf eine ganze Diskussion hin, was alles für Meinungen über Jesus herumgeboten werden und gipfelt schliesslich in der Meinung des Herodes, der sagte: „Johannes, den ich habe enthaupten lassen, der ist auferstanden.“ (Mk 6,16). Der Hinweis auf die Enthauptung fehlt bei Matthäus.

 

 

 

! Mk 6,17-29: Bericht über die Enthauptung Johannes’ {Mt 14,3-12}

Markus widmet diesem spannenden Bericht 13 Verse, Matthäus 10, wobei auch hier die Verse bei Markus im Verhältnis 5:4 länger sind (vgl. Mk 6, 1-6).

 

Matthäus schweigt über die heimliche Achtung des Herodes vor Johannes (vgl. Mk 6,20). Sodann zählt Markus die Gäste auf, die Herodes zum Geburtstag einlud (Mk 6,21), was Matthäus nicht tut. Dann folgt der Kern der Erzählung, die bei Markus viel lebendiger ist als bei Matthäus. Während Matthäus eher zusammenfassend berichtet, wiedergibt Markus die Gespräche in direkter Rede: Das Gespräch zwischen Herodes und der Tochter der Herodias (Mk 6,22b-23), dann das Gespräch zwischen der Tochter und ihrer Mutter (Mk 6,24). Matthäus dagegen wiedergibt einzig die schauerliche Bitte der Tochter der Herodias an König Herodes in direkter Rede. Doch auch hier ist Markus lebendiger; sein Text könnte 1:1 als Regietext für einen Film gebraucht werden: „Sofort eilte jene zum König hinein und bat: ‚Ich will, dass du mir sofort auf einer Schüssel das Haupt Johannes’ des Täufers gibst. Da wurde der König sehr betrübt [perílüpos = tiefbetrübt]…“ (Mk 6,25-26a). Die Betrübnis des Königs wird bei Matthäus weniger dramatisch mit [lüpäteìs = betrübt] wiedergegeben (Mt 14,9).

Der Befehl zur Enthauptung ist bei Matthäus sachlich: Der König „befahl, ihn ihr zu geben. Er sandte hin und liess Johannes im Gefängnis enthaupten, und sein Haupt wurde auf einer Schüssel gebracht und dem Mädchen gegeben, und die brachte es ihrer Mutter.“ (Mt 14,9b-11). Markus berichtet viel lebendiger: „Und sofort schickte der König einen von der Leibwache ab mit dem Befehl, sein Haupt zu bringen. Der ging hin, enthauptete ihn im Gefängnis, brachte sein Haupt auf einer Schüssel und gab es dem Mädchen, und das Mädchen gab es seiner Mutter.“ (Mk 6,27-28). Matthäus berichtet dann: „Und seine Jünger kamen herbei, nahmen den Leichnam und begruben [étapsav = bestatteten] ihn (Mt 14,12). Markus erzählt bildlicher: „Als seine Jünger das hörten, kamen sie, holten seinen Leichnam und setzten ihn in einem Grabe bei [epsäkav ev mvämeío = legten in ein Grab].

 

Wer also die Geschichte kurz und bündig mit allen relevanten Inhalten lesen will, der nehme Matthäus zur Hand. Wer bildhafte Szenen zu Gemüte führen will, der lese Markus.

 

 

 

! Mk 6,30-44: Erste Brotvermehrung {Mt 14,13-21}

Markus widmet der Szene 15 Verse, Matthäus 9, Lukas 8, Johannes 15. Für einmal ist Matthäus nicht der kürzeste und Markus hat nicht allein die längste Fassung.

 

Doch auch bei der Erzählung dieser Szene enthält Markus etliche Einzelheiten, die bei Matthäus fehlen. Das beginnt schon bei der Einleitung. Markus schreibt: „Und die Apostel kamen bei Jesus zusammen und berichteten ihm alles, was sie getan und was sie gelehrt hatten.“ (Mk 6,30). Damit schildert Markus einmal mehr die Vertraulichkeit zwischen den Aposteln und Jesus.

 

Dann geht der Text über zu dem, was alle Evangelisten berichten, nämlich dass Jesus sich mit seinen Jüngern zurückzieht. Markus berichtet sehr bildlich: „Kommt mit, ihr selbst für euch allein, an einen einsamen Ort…. Denn es waren viele, die da kamen und gingen, dass sie nicht einmal Zeit zum Essen hatten.“ Diese Bemerkung über das Essen finden wir nur bei Markus; wir haben davon schon bei der Szene gelesen, als Jesus nach Hause kam (Mk 3,20). Ob das Markus persönlich erlebt hat, oder ob es ihm der bodenständige Petrus später erzählte – beides würde zu seiner Erzählweise passen.

 

Als sie ankamen und die vielen Menschen sahen, schreiben Matthäus und Markus übereinstimmend, dass Jesus „von Mitleid mit ihnen ergriffen“ wurde. Matthäus erzählt kurz, dass er ihre Kranken heilte. (Mt 14,14). Markus fügt noch ein: „denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben“ und erzählt dann: „und er begann, sie vieles zu lehren“ (Mk 6,34). Von Heilungen berichtet Markus nicht, während Matthäus vom Lehren nichts schreibt (m.E. untypisch).

 

Markus schildert dann ein Gespräch zwischen Jesus und den Jüngern über die 5 Brote und 2 Fische (Mk 6,37-38).

Bei Matthäus ist dieses Gespräch sehr kurz und beschränkt sich auf den wesentlichen Schluss: „Wir haben hier nur fünf Brote und zwei Fische“ (Mt 14,17).

Bei Johannes entwickelt sich eine richtige Diskussion zwischen Jesus und den Jüngern und zwischen den Jüngern unter sich (Joh 6, 5-9).

 

Dann folgt bei Markus wiederum eine genaue Beschreibung der Umstände: „Da befahl er (Jesus) ihnen, es sollten sich alle in Tischgemeinschaften auf dem grünen Gras lagern. Und sie lagerten sich in Gruppen zu je hundert und fünfzig.“ (Mk 6,39-40). Matthäus beschreibt diese Szene nur knapp: „Und er liess die Massen sich im Grase lagern“ (Mt 14,19). Markus berichtet dann etwas ausführlicher vom Verteilen als Matthäus; insbesondere erwähnt er beim Austeilen nochmals die Fische (Mk 6,41b).

 

Untypisch scheint indessen der Schluss, wo Matthäus die Volksmenge genauer präzisiert als Markus. Beide schreiben von fünftausend Männern, doch Matthäus fügt hinzu: „ohne die Frauen und Kinder“ und macht damit klar, dass es gegen fünfzigtausend Menschen waren (bei den damals kinderreichen Familien, evtl. sogar mit Nebenfrauen, könnten es sogar noch mehr gewesen sein!).

Zu bedenken ist, dass auch Matthäus gerne über die Menge der Leute schreibt, doch auf eine andere Art als Markus. Für den erwachsenen Analysten Matthäus sind die messbaren Zahlen von Bedeutung. Für Markus ist dagegen der Eindruck wesentlich, der aus seiner Kindheit im Gedächtnis haften blieb. Es waren sehr viele – genaue Präzisionen interessieren ihn wenig. Sodann ist Markus v.a. beeindruckt, wenn plötzlich sehr viele Menschen die Privatsphäre überfluten. Als Kind ist er tief beeindruckt, dass sobald Jesus nach Hause (zu Petrus) kommt, alle Dimensionen gesprengt werden, nicht nur im Haus, sondern auch vor der Tür. Kinder können ja in der Regel kaum zwischen 1’000 und 10’000 unterscheiden – viele sind viele. Für den erwachsenen Matthäus, der die Juden davon überzeugen will, dass Jesus der Messias ist, sind absolute Zahlen schon wichtiger.

 

 

 

Mk 6,45-52: Jesus wandelt auf dem Wasser {Mt 14,22-33}

Matthäus ist hier ausführlicher, da nur er über die Szene berichtet, wo Petrus Jesus auf dem Wasser entgegen geht und dabei unterzugehen droht. Die Details sind sogar eher bei Matthäus als bei Markus zu finden. Trotzdem passt das zu meinen Untersuchungen, denn es ist anzunehmen, dass der kleine Markus bei dieser nächtlichen Seefahrt nicht dabei war. So berichtet Matthäus aus erster Hand, Markus jedoch nur so, wie es ihm später von Petrus erzählt wurde.

 

 

 

! Mk 6,53-56: Jesus heilt in Gennesaret {Mt 14,34-36}

Matthäus schreibt bündig: „Und sie fuhren hinüber und landeten in Gennesaret.“ (Mt 14,34). Markus bildhaft-erzählerisch: „Und sie fuhren hinüber ans Land, kamen nach Gennesaret und legten an.“ (Mk 6,53). Die Markusversion ist malerisch.

 

Matthäus schreibt dann nüchtern und unvermittelt weiter (das Aussteigen aus dem Boot beschreibt er nicht): „Und die Leute jenes Ortes erkannten ihn und sandten Boten in die ganze Umgegend, und man brachte alle Kranken zu ihm.“ (Mt 14,35). Markus hingegen schildert sozusagen einen grossflächigen Tumult und beschreibt schliesslich auch, auf welche Weise sie diese Kranken zu ihm brachten: „Und als sie aus dem Boot stiegen, erkannten ihn die Leute alsbald, liefen in der ganzen Gegend umher und brachten die Kranken auf ihren Bahren dorthin, wo sie hörten, dass er sei.“ (Mk 6,54-55).

 

 

 

Mk 7,1-13: Streit übers Händewaschen {Mt 15,1-9}

Die Einleitung ist typisch für Markus: „Und es versammelten sich bei ihm die Pharisäer und einige Schriftgelehrte, die von Jerusalem gekommen waren. Und als sie einige seiner Jünger mit unreinen, das heisst ungewaschenen Händen die Speisen essen sahen…, da fragten ihn die Pharisäer und Schriftgelehrten…“ (Mk 7,1-5). Wiederum wäre hier Markus geeignet für eine Regieanweisung für einen Film, während Matthäus nur sagt: „Da kamen von Jerusalem Pharisäer und Schriftgelehrte zu Jesus und sagten…“ (Mt 15,1).

Markus fügt Erklärungen über die Bräuche der Pharisäer und Schriftgelehrten an. Matthäus setzt offenbar voraus, dass dieser Hintergrund bekannt ist.

Mk 7,14-23: Belehrung der Jünger über rein und unrein {Mt 15,10-20}

Markus gibt hier die Stimmung des vertraulichen Verhältnisses von Jesus mit seinen Jüngern wieder: „Und als er von der Menge weg ins Haus gegangen war, fragten ihn seine Jünger nach dem Gleichnis.“ (Mk7,17). Matthäus schreibt sodann: „Da nahm Petrus das Wort und sagte: ‚Erkläre uns das Gleichnis’.“ (Mt 15,15). Hier sehen wir wieder, wie Markus den Petrus verbirgt, während Matthäus ganz offen ihn als Wortführer darstellt. Matthäus steht eben in einem geistigen Verhältnis zu Petrus, Markus in einem leiblichen.

 

Die Aufzählung von alldem, was aus dem Menschen herauskommt und ihn verunreinigt, ist bei Markus ausführlicher: „Denn von innen, aus dem Herzen der Menschen, kommen die bösen Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habsucht, Bosheit, Arglist, Ausschweifung, Neid, Lästerung, Hochmut, Unbesonnenheit.“ (Mk 7,21-22)

Bei Matthäus ist die Aufzählung: „Denn aus dem Herzen kommen die böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsches Zeugnis, Lästerung.“ (Mt 15,18-19).

Die Aufzählung bei Markus ist beinahe doppelt so lang. Ausser „falsches Zeugnis“ übernimmt er alles von Matthäus, fügt aber noch Wesentliches hinzu. Die Bosheiten, die Markus noch anfügt, scheinen mir jene Dinge zu sein, die bei der Gewissenserforschung eher unbeachtet bleiben. Wer Diebstahl, Mord oder Ehebruch auf dem Gewissen hat, wird das in der Gewissenserforschung schneller entdecken, als wer sich Habsucht, Arglist, Neid, Hochmut oder Unbesonnenheit zu Schulden kommen liess.

 

Vor dieser Aufzählung wiedergibt Matthäus ein Wortspiel Jesu, das bei Markus fehlt: „…alles, was in den Mund hineinkommt…, wird in den Abort hinausgeworfen. Aber was aus dem Munde herauskommt, das kommt aus dem Herzen und das verunreinigt den Menschen.“ Bei Markus wird der Mund nicht erwähnt. Man könnte auf den ersten Blick meinen, dass hier für einmal Matthäus konkreter, bildlicher ist als Markus. Doch es handelt sich bei Matthäus um das Wortspiel „in den Mund hinein, aus dem Mund heraus“, und nicht um eine Konkretisierung, da manche der erwähnten Bosheiten wie z.B. Ehebruch und Diebstahl gar nicht aus dem Mund heraus kommen.

Dafür betont Markus das Innere, und wiederholt es am Schluss nochmals: „Alles dieses Böse kommt von innen heraus und macht den Menschen unrein.“ (Mk 7,23).

 

 

 

! Mk 7,24-30: Heilung der Syro-phönizierin {Mt 15,21-28}

Bei der Einleitung bringt Markus wiederum die äusseren Umstände sowie die Stimmung näher, in der Jesus sich befand: „Und von da brach er auf und ging fort in das Gebiet von Tyrus. Und er trat in ein Haus und wollte, dass es niemand erfahre. Doch er konnte nicht verborgen bleiben. Vielmehr hörte sogleich eine Frau von ihm…“ (Mk 7, 24-25). Bei Matthäus heisst es viel kürzer: „Und Jesus ging von dort weg und zog sich in die Gegend von Tyrus und Sidon zurück. Und siehe, eine kanaanäische Frau…“ (Mt 15, 21-22).

Über die Auseinandersetzung mit der Frau berichtet Matthäus mit mehr Details.

Doch bei der Heilung selbst ist Markus wieder bildlicher: „Und sie ging weg in ihr Haus und fand das Kind auf dem Bett liegend und den Dämon ausgefahren.“ (Mk 7,30). Matthäus bemerkt indessen nur: „Und seit jener Stunde war ihre Tochter gesund.“ (Mt 15,28).

 

 

 

!! Mk 7,31-37: Heilung des Taubstummen

Ohne vergleichbare Stelle bei Matthäus ist der wortwörtlich eindringliche Bericht über die Heilung eines Taubstummen: „Und er (Jesus) nahm ihn von der Menge weg für sich, legte seine Finger in seine Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel, blickte zum Himmel auf, seufzte und sagt zu ihm: ‚Effata’, das heisst: ‚Öffne dich!’…“ (Mk 7,33-34). In Bezug auf die ganze Art, wie Markus hier das Wirken Jesu schildert, lässt sich im ganzen Neuen Testament nichts Vergleichbares finden. Fast die ganze Palette der von mir Anfangs erwähnten Eigenheiten von Markus scheinen hier auf: intensive Nähe, weg von der Menge, Berührungen, Vertraulichkeit, Beschreibung von Emotionen, Wiedergabe besonders tief gehender (mit Emotionen verbundener) Worte Jesu in der Originalsprache – hier das eindringliche „Effata!“

Auch die eintretende Heilung wird mit grosser Genauigkeit beschrieben: „Und sofort öffneten sich seine Ohren und löste sich die Fessel seiner Zunge, und er redete richtig.“ (Mk 7,35)

 

Bemerkenswert ist auch die Ähnlichkeit mit der Kindersegnung (10,13): „man brachte Kinder zu ihm, damit er sie berührte“ – und anstatt dass er sie nur berührte, nahm er sie in seine Arme und legte ihnen die Hände auf (Mk 10,16) Und hier heisst die Einleitung: „Da brachten sie einen Taubstummen …und baten ihn, ihm die Hand aufzulegen“, worauf dann eine viel intensivere Berührung folgt als nur die Auflegung einer Hand. Wenn wir Jesus um Berührung bitten, wird er uns weit mehr als nur in jener Weise berühren, um die wir ihn bitten.

 

 

 

Mk 8,1-9: Zweite Brotvermehrung {Mt 15,32-38}

Der Bericht bei Markus ist sehr ähnlich wie bei Matthäus.

 

Wie bei der ersten Brotvermehrung (Mk 6,30-44) beschreibt Matthäus auch hier die Menschenmenge genauer als Markus: „Aber die Essenden waren viertausend Männer, ohne die Frauen und Kinder.“ (Mt 15,38). Markus schreibt nur: „Es waren aber ungefähr viertausend, und er entliess sie.“ (Mk 8,9). Markus spricht hier nicht einmal von Männern. Wie bei der ersten Brotvermehrung schon erwähnt, sind für Matthäus die absoluten Zahlen wichtiger als für Markus, dessen Erzählung eher vom kindlich-subjektiven Eindruck geprägt ist.

 

 

 

! Mk 8,11-13: Zeichenvorderung der Pharisäer {Mt 16,1-4}

Auch in diesem Abschnitt leuchtet der emotionale Eindruck des Buben Markus auf. Nachdem die Pharisäer von Jesus ein Zeichen forderten, „da seufzte er in seinem Geiste auf und sprach…“. Diese Bemerkung fehlt bei Matthäus.

 

 

 

!! Mk 8,22-26: Heilung eines Blinden

„Und sie bringen ihm einen Blinden und bitten ihn, dass er ihn berühre.“ (Mk 8,22). Nach dieser Bitte dürfen wir mehr erwarten, als nur eine Berührung. Ja, damit die Berührung durch Jesus innig ist, „nahm er den Blinden bei der Hand und führte ihn zum Dorf hinaus.“ Dann schildert uns Markus wiederum eine Berührung, wie wir sie nirgends im Neuen Testament finden: „gespuckt habend in seine Augen, ihm die Hände aufgelegt habend, fragte er ihn: ‚Siehst du etwas?’ Und die Augen aufgeschlagen habend, sagte er: ‚Ich sehe die Menschen, weil ich Umhergehende sehe wie Bäume.’ Dann legte er die Hände wieder auf seine Augen, und dieser blickte scharf hin und wurde wieder hergestellt, und er sah alles ganz deutlich.“ (Mk 8,23-25). Hatte denn der Herr nicht die Macht, das Wunder auf Anhieb perfekt zu machen? Ja, sicher; aber er wollte ihm noch einmal die Hände auf die Augen legen. Er hätte ihn ja auch nur mit einer kurzen Berührung heilen können. Aber Jesus will mit dem zu Heilenden sein und mit ihm einen Heilungsprozess durchgehen.

Es gibt in der Hl. Schrift und auch in unserer Zeit (z.B. in Lourdes) Heilungen, die sofort und perfekt vollendet sind. Und es gibt in der Hl. Schrift und auch in unserer Zeit Heilungen, die ein Prozess sind. Und gerade in einem solchen Prozess ist die Berührung durch Jesus oft sehr intensiv.

 

! Mk 8,27-30: Das Messiasbekenntnis des Petrus {Mt 16,13-20}

Matthäus ist hier viel ausführlicher, da bei Markus wie auch bei Lukas die Einsetzungsworte für das Petrusamt fehlen. Markus ist ja der einzige Evangelist, der das Petrusamt nirgends betont. Matthäus tut es an eben dieser Stelle (Mt 16,18), Lukas tut es beim Bericht der Berufung (Lk 5,1-11) und dann ausgedehnt in der Apostelgeschichte, Johannes mit seinem ganzen 21. Kapitel. Markus nimmt den Petrus stets zurück, was ein Indiz einer leiblichen Abhängigkeit von Petrus sein könnte.

 

Der Schluss der Szene ist bei Markus mit mehr Emotion geschrieben als bei Matthäus:

  • Matthäus berichtet: „Da befahl [diesteílato] er den Jüngern, niemandem zu sagen, dass er der Messias sei.“ (Mt 16,20)
  • Markus schreibt: „Da gebot er ihnen streng [epetímäsen], niemand etwas von ihm zu sagen.“ (Mk 8,30).
  • Lukas betont noch mehr: „Aufs strengste einschärfend gebot er ihnen“ [epitimäsas autois paräggeilen] (Lk 9,21).

 

 

 

! Mk 8,31-33: Leidensankündigung und Tadel an Petrus {Mt 16,21-23}

Hier berichtet Markus ausdrücklich, dass Jesus den Petrus vor den andern Jüngern zurechtweist.

  • Matthäus schreibt: „Er aber wandte sich um und sprach zu Petrus…“ (Mt 16,23)
  • Markus schreibt: „Er aber wandte sich um, blickte auf seine Jünger und fuhr den Petrus an…“ (Mk 8,33).

Einerseits hebt Markus die Peinlichkeit der Situation hervor. Andererseits unterstreicht er – wohl unbewusst – die Bedeutung des Petrus. Dass Jesus auf seine Jünger blickt und Petrus vor ihnen zurechtweist, ist vergleichbar mit einer öffentlichen Zurechtweisung, die dann angebracht ist, wenn der Fehltritt eine öffentliche Auswirkung hat. Da Petrus eine Autorität hat, die alle betrifft, hat sein Fehlverhalten Auswirkungen auf alle Jünger. So wie z.B. der Feudalismus des Papstes seinerzeit negativ-weltliche Auswirkungen auf Bischöfe und Priester in der ganzen Welt hatte.

 

 

 

! Mk 9,2-13: Die Verklärung und anschliessendes Gespräch {Mt 17,1-13}

Matthäus beginnt: „Und nach sechs Tagen nimmt der Jesus zu sich den Petrus und Jakobus und dessen Bruder Johannes und führt sie auf einen hohen Berg für sich [kat’ idían].“ (Mt 17,1). Markus hingegen schreibt: „Und nach sechs Tagen nimmt der Jesus zu sich den Petrus und den Jakobus und den Johannes und führt sie auf einen hohen Berg, für sich allein [kat’ idían mónus]“ (Mk 9,2). Im Vergleich fallen zwei Dinge auf:

  • die Aufzählung der drei Apostel ist bei Matthäus leicht anders als bei Markus: Matthäus schreibt Jesus und Petrus mit Artikel: „Der Jesus [ho Jäsus] nimmt den Petrus [tòn Pétron]“, während Jakobus ohne Artikel geschrieben ist und Johannes in Abhängigkeit zu Jakobus als dessen Bruder. So hebt Matthäus den Petrus hervor, indem er ihn durch das Setzen des Artikels auf die gleiche Ebene wie Jesus hebt. Markus hingegen hebt den Petrus nicht hervor. Er stellt die drei Apostel genau gleich nebeneinander: „Der Jesus nimmt den Petrus und den Jakobus und den Johannes“. (Mk 9,2). Indem er allen den Artikel voransetzt, wird keiner hervorgehoben. Dass Petrus an erster Stelle genannt wird, ist eine Gepflogenheit, an sich auch Markus hält.
  • bei Markus finden wir sodann noch ein zusätzliches Wort: Matthäus schreibt: „er führt sie auf einen hohen Berg für sich [kat’ idían]“. Markus schreibt hinzu: „für sich allein [kat’ idían mónus]“. So betont Markus, dass diese drei Jünger mit Jesus ganz allein sind. Womöglich schwingt da noch ein wenig die Beleidigung des Buben mit, der nicht auf diesen hohen Berg mitgehen durfte. Wie sehr hätte ihn doch interessiert, was da oben läuft!

 

Matthäus schreibt knapp, aber aussagekräftig, wie weiss Jesu Gewänder wurden: „leuchtend wie das Licht“. Markus schreibt etwas umständlicher, aber in gewisser Hinsicht bildlicher: „ganz leuchtend weiss, wie sie kein Walker auf Erden so weiss machen kann.“ Gut denkbar, dass Petrus dem Markus das Weiss dieser Gewänder in vielen Erklärungen begeistert beschrieben hatte und deshalb Markus ausführlicher ist als Matthäus, der die Beschreibung vielleicht von Jakobus hatte.

 

Die Aussage Petri über die drei Hütten wird von beiden Evangelisten beschrieben, doch Markus fügt hinzu: „Er wusste nämlich nicht, was er sagen sollte, denn sie waren von Schrecken ergriffen [ékfoboi gàr egénonto].“ (9,6) Hier finden wir wieder die Beschreibung der Emotionen, die bei Matthäus allerdings später, nachdem die Stimme aus der Wolke erscholl, auch steht, sogar mit einer Geste unterstrichen: „Als die Jünger das hörten, warfen sie sich auf ihr Angesicht nieder und fürchteten sich sehr [efobäthäsav sfódra]“ (Mt 17,6). Doch diese Geste beschreibt Matthäus vermutlich nicht im Sinne einer Emotion, sondern als theologische Aussage: Wer vor Gott steht, fällt auf das Gesicht.

 

Die Erzählung der Verklärung des Herrn scheint mir bei Markus trotz des hohen emotionalen Potenzials doch eher durchschnittlich, weil er selber ja nicht dabei war.

 

Beim Bericht, was sie miteinander geredet hatten, während sie den Berg hinunterstiegen, ist Markus ausführlicher. Er berichtet darüber, dass die Jünger besprachen, „was das bedeute: von den Toten auferstehen“ (Mk 9,10). Hier kommt eine eigenartige Distanz der Jünger zu Jesus zum Vorschein, denn sie reden nur untereinander und nicht mit ihm über dieses Thema, das sie offenbar sehr beschäftigt („Dieses Wort hielten sie fest und besprachen…“). Auffallend ist, dass Petrus hier nicht speziell hervortritt. Wahrscheinlich ist er noch ganz benommen von dem, was auf dem Berg geschehen war.

 

Im anschliessenden Gespräch mit Jesus über das Kommen Elias’ (Matthäus und Markus berichten über dieses Elias-Gespräch) berichtet ausschliesslich Markus darüber, dass Jesus nochmals auf das Thema seines Leidens zurückkommt: „Aber wie steht über den Menschensohn geschrieben, dass er viel leiden und verachtet werden müsse.“ (Mk 9,12). Wenn Jesus beim Abstieg vom Berg über sein Leiden geredet hat, dann ist es wohl gewiss, dass Petrus das dem Markus später erzählt hatte. Schliesslich ist Petrus die Zurechtweisung Jesu sicherlich für immer tief in den Knochen, als Jesus ihn anherrschte und sagte: „Geh fort, hinter mich, Satan“ (Mk 8,33) – das war, nachdem Petrus Jesus vom Leiden abhalten wollte. So versteht sich auch, dass Petrus nicht traute, wieder mit Jesus über sein Leiden zu reden. Und doch beschäftigte ihn das, so dass sie untereinander darüber redeten und er dies später (vielleicht auch unmittelbar danach, aber wahrscheinlich – weil es ihm peinlich war – erst später) seinem Sohn Markus erzählte.

 

 

 

!! Mk 9,14-29: Verfehlter Exorzismus der Apostel und Austreibung des stummen Geistes durch Jesus {Mt 17,14-21}

Hier ist wieder – wie andere Male, wenn es um aufsehenerregende Wunder geht – Markus der Ausführlichere. Er widmet der Szene 16 Verse, Matthäus 5, Lukas 7.

 

Insbesondere die Szene der Austreibung selbst berichtet Markus wie einer, der dabei gewesen und mit kindlichem Gemüt tief beeindruckt war: „Sobald aber der Geist ihn erblickte, riss und zerrte er ihn hin und her, so dass er zu Boden stürzte und sich schäumend herumwälzte. Und er (Jesus) fragte seinen Vater: ‚Wie lange schon widerfährt ihm das?’ Der antwortete: ‚Von Kindheit an. Oft hat er (der Dämon) ihn sogar schon ins Feuer und ins Wasser geworfen, um ihn umzubringen. Aber wenn du etwas vermagst, so hab Erbarmen mit uns und hilf uns.’ Jesus aber sprach zu ihm: ‚Wenn du etwas vermagst? Alles ist dem möglich, der glaubt.’ Sofort rief der Vater des Knaben laut: ‚Ich glaube; hilf meinem Unglauben!’ Als Jesus sah, dass das Volk zusammenlief, herrschte er den unreinen Geist an mit den Worten: ‚Du stummer und tauber Geist, ich befehle dir, fahre aus von ihm und kehre nie mehr in ihn zurück.’ Da schrie er auf, zerrte ihn heftig hin und her und fuhr aus. Und der Knabe war wie tot, so dass die meisten sagten: ‚Er ist gestorben.’ Jesus aber ergriff ihn bei der Hand und richtete ihn auf; und er stand auf.“ (Mk 9,20-27).

Matthäus schreibt über die Befreiung ziemlich trocken: „…da fuhr der Dämon von ihm aus, und von jener Stunde an war der Knabe geheilt.“ (Mt 17,18). Ich möchte nicht daraus schliessen, dass Matthäus als Apostel nicht dabei war, als dies geschah. Aber als erfahrener Mann, der als Zöllner schon vieles erlebt hatte, interessierte ihn die Szene von der Sache und nicht vom Eindruck her. Dafür berichtet Matthäus hinterher über die Ausführungen Jesu bezüglich des senfkorngrossen Glaubens, der Berge versetzen kann (Mt 17,20). Matthäus ist die Lehre und der Inhalt wichtig, Markus hingegen das erlebte Geschehen.

Und doch erhalten wir von Markus dank seiner beschreibenden Art einige Hinweise über die richtige Durchführung eines Exorzismus’. Wir erfahren durch ihn – innerhalb seiner Erzählung – dass zum Exorzismus ein starker Glaube und das Gebet gehören. Aber auch andere Details erfahren wir anhand des Beispiels, das Jesus hier gibt. In der Befragung des Vaters kann man sogar eine psychologische Abklärung sehen. Matthäus wiedergibt zwar ebenfalls die Worte des Vaters an Jesus (Mt 17,15-16). Aus seiner Erzählung geht aber nicht hervor, dass Jesus ihn über die Umstände befragt hatte. Die Angabe „von Kindheit an“ ist wichtig zur Klärung der Ursache, die anders ist, wenn die Besessenheit schon beim unschuldigen Kind war, als wenn sie erst später auftritt. So gibt uns Markus – vermutlich unbeabsichtigt – durch seinen erzählerischen Stil eine ganze Lehre über den Exorzismus.

 

 

 

! Mk 9,30-32: Zweite Leidensankündigung {Mt 17,22-23}

Markus ist auch hier ausführlicher, vermutlich, da es sich um ein Thema handelt, das den Petrus seit der schroffen Zurechtweisung Jesu sehr beschäftigte.

 

Markus wiedergibt den Umstand: „Er (Jesus) wollte aber nicht, dass es jemand erfahre. Denn er lehrte seine Jünger und sprach zu ihnen…“ Markus betont abermals die Vertrautheit Jesu mit seinen Jüngern, und zwar nicht nur mit den Jüngern, sondern mit den seinen Jüngern [tùs mathätàs autu].

 

Dann berichtet Markus wie Matthäus, dass Jesus über seine Überlieferung in die Hände der Menschen, seinen Tod und seine Auferstehung nach drei Tagen spricht. Während Matthäus anfügt: „Da wurden sie sehr traurig“ (Mt 17,23), führt Markus aus: „Sie aber verstanden das Wort nicht und scheuten sich, ihn zu fragen.“ (Mk 9,32). Auch hier wieder die Scheu der Jünger und insbesondere die Scheu des Petrus, der sich sonst nicht scheut, dem Herrn gar zu widersprechen. Aber bezüglich des Leidens hat er dies nur einmal getan; die Zurechtweisung des Herrn hatte so gewirkt, dass Petrus nicht einmal mehr traute, eine Frage zu stellen.

 

 

 

! Mk 9,33-37: Streit darüber, wer der Grösste sei {Mt 18,1-5}

Obschon die Anzahl Verse bei Matthäus gleich ist wie bei Markus, ist doch die Beschreibung dieser Szene bei Markus länger (da die Verse bei Matthäus hier wesentlich kürzer sind).

 

Matthäus berichtet wiederum über den Sachverhalt, während Markus die Szene filmreif wiedergibt. Markus schreibt, dass Jesus in Kapharnaum „in das Haus gekommen war [en tä oikía]“. Josef Schmid übersetzt in seiner Synopse m.E. zutreffend: „Und als er zu Hause angelangt war“ (Josef Schmid, Synopse, Pustet, Regensburg 1964). Es wird wohl kein anderes Haus sein, als jenes des Simon und Andreas (Mk 1,29), gemäss der Weisung, die Jesus selber gibt: „Bleibt in diesem Hause…geht nicht von Haus zu Haus“ (Lk 10,7).

 

Da ist also Jesus wieder am vertrauten Ort und spricht seine Jünger in vertraulicher Weise an, so wie eine Mutter, die an der Nasenspitze ihres Sohnes sieht, dass da etwas nicht ganz stimmt. Er fragte sie: „Worüber habt ihr unterwegs gesprochen?“ Markus schreibt nicht gerade, dass sie rot geworden seien, aber er lässt dies durchblicken, indem er schreibt: „Sie aber schwiegen; sie hatten nämlich unterwegs miteinander gestritten, wer der Grösste sei.“ (Mk 9, 33-34). Weder Matthäus noch Lukas lassen die Peinlichkeit dieser Situation so klar aufscheinen.

 

Auch beschreibt Markus wiederum diese seltsame Distanz zwischen den Jüngern und Jesus – auch diesmal Petrus inbegriffen. Und er fährt fort: „Da setzte er sich nieder, rief die Zwölf zu sich und sprach zu ihnen…“ – wie die Mutter die Kinder zu sich ruft, nachdem sie etwas angestellt haben und nicht darüber reden wollen. Der erste Satz der Belehrung steht nur bei Markus: „Wenn einer ein Erster sein will, muss er der Letzte von allen und der Diener aller sein.“ (Mk 9,35). Dann folgt – bei allen drei Evangelisten – der Vergleich mit dem Kind. Doch nur Markus schildert die Herzlichkeit, die Jesus zu diesem Kind hat. Er schreibt: „Und er nahm ein Kind, stellte es mitten unter sie, umarmte es und sprach zu ihnen…“ (Mk 9,36).

 

Die Belehrung selbst berichtet Matthäus ausführlicher. Doch Markus fügt an (erste Hälfte des Satzes ähnlich wie bei Matthäus): „Wer eines von solchen Kindern in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, der nimmt nicht mich auf, sondern den, der mich gesandt hat.“ Ob dieses Kind, das Jesus hier in seine Arme schliesst [enagkalisámenos autò], der Pflegesohn des Petrus, nämlich Markus selber ist, darüber schweigt selbstverständlich der Evangelist. Doch die Emotionalität des Berichtes, sowohl was die Peinlichkeit der Jünger, als auch was das Angenommensein dieses Kindes betrifft, schliesst zumindest nicht aus, dass Markus da aus seinem Erlebnis als Pflegesohn des Petrus berichtet. Dazu würde auch passen, dass Petrus beim Gespräch unter den Jüngern vermutlich kaum behauptet hatte, er sei der Grösste. Wenn dann also Jesus seinen Pflegesohn in die Arme nimmt und dann noch die Situation beschreibt, in der Petrus sich befindet („wer eines von solchen Kindern in meinem Namen aufnimmt…“), dann darf das nicht als Schmeichelei verstanden werden, sondern als indirekter Hinweis, dass eben Petrus der erste unter den Aposteln ist. Markus hätte den Text sicherlich anders geschrieben, wenn er damals meine Schlussfolgerung geahnt hätte…

 

 

 

Mk 9,42-50: Hand abhauen und Auge ausreissen {Mt 18,6-9}

Markus wiedergibt die Rede Jesu über die Hölle ausführlicher als Matthäus. Ich kann mir vorstellen, dass den jungen Markus die Ausführungen Jesu über die Hölle beeindruckt hatten, während für Matthäus das Faktum der Hölle genügte, da klar war, dass damit ewige Pein gemeint war, die nicht ausformuliert zu werden braucht. Wohl ist die ewige Dauer der Hölle auch bei Matthäus erwähnt, aber es fehlen die Ausmalungen des Herrn über den Wurm, der nicht stirbt.

  • Matthäus schreibt also: „Wenn dich nun deine Hand oder dein Fuss ärgert (bzw. zur Sünde verführt [skandalíxei]), so hau ihn ab und wirf ihn von dir. Es ist besser, verstümmelt oder lahm in das Leben einzugehen, als mit beiden Händen oder beiden Füssen ins ewige Feuer geworfen zu werden. Und wenn dich dein Auge ärgert, so reiss es aus und wirf es von dir. Es ist besser für dich, einäugig ins Leben einzugehen, als mit beiden Augen in die Feuerhölle geworfen zu werden.“ (Mt 18,8-9).
  • Markus schreibt ausführlicher: „Und wenn dir deine Hand Ärgernis gibt (dich zur Sünde verführt), dann hau sie ab. Besser ist es für dich, verstümmelt ins Leben einzugehen, als mit beiden Händen in die Hölle zu fahren, in das unauslöschliche Feuer. Und wenn dir dein Fuss Ärgernis gibt, dann hau ihn ab, es ist besser, hinkend ins Leben einzugehen, als mit beiden Füssen in die Hölle geworfen zu werden. Und wenn dir dein Auge Ärgernis gibt, dann reiss es aus. Es ist besser, einäugig in das Reich Gottes einzugehen, als mit beiden Augen in die Hölle geworfen zu werden, wo ihr Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht erlischt, denn jeder wird mit Feuer gesalzen werden.“ (Mk 9,43-49).

Mir scheint, als ob Matthäus die Rede Jesu zusammenfasst – z.B. dass er Hand und Fuss in einem Satz zusammennimmt, und dass er weglässt (oder zum Zeitpunkt der Abfassung seines Evangeliums vergessen hat), was ihm nicht wichtig erscheint – z.B. den Wurm, der nicht stirbt.

 

Der Übergang zum Salz, das in den Gläubigen wirksam sein soll, ist einzig bei Markus. Ob Jesus hier einen Bezug dazu macht, dass die Gläubigen einst auf dem Richterstuhl sitzen und über die Verführer richten werden? Auch beim Vergleich mit der Bergpredigt (Mt 5,13) findet man bei Markus eine einzigartige Zusatzbemerkung Jesu: „Habt Salz in euch und haltet Frieden untereinander.“ Das ist eine Konkretisierung, die offenbar nur Markus aufgefangen und dann in sein Evangelium geschrieben hat.

 

 

 

Mk 10,1-12: Frage der Ehescheidung/ des Zölibats {Mt 19,1-12}

Hier ist Markus nicht ausführlicher als Matthäus. Er lässt die Frage nach dem Zölibat weg. Ich denke, da es sich um eine Lehre handelt, ist hier Matthäus etwas präziser.

 

 

 

!! Mk 10,13-16: Jesus und die Kinder {Mt 19,13-15}

Für mich ist das die Schlüsselstelle, die dazu geführt hat, das Markusevangelium zu durchkämmen.

  • Matthäus: „Und ihnen die Hände aufgelegt habend, ging er weg von dort.“ (Mt 19,15).
  • Markus: „Und sie in die Arme nehmend, segnete er sie, die Hände auf sie legend. (Mk 10,16).
  • Lukas berichtet nur, dass Jesus die Kinder zu sich kommen lässt, aber nicht darüber, dass er sie berührte (Lk 18,15-17).

Markus berichtet hier als einziger von der Umarmung. Schon bei der Begebenheit, als Jesus ein Kind in die Mitte seiner Jünger stellte, berichtet er als einziger, dass Jesus dieses Kind umarmt hat (Mk 9,36). Offenbar war es Markus ein Anliegen, über diese Herzlichkeit Jesu zu den Kindern zu berichten. Doch nicht nur über die Herzlichkeit in der Geste, sondern auch über den emotionalen Einsatz Jesu für die Kinder berichtet Markus mit Sorgfalt: „Und man brachte Kinder zu ihm, damit er sie berühre (Anm.: immer, wenn jemand um Berührung bittet, dürfen wir gespannt sein, was Jesus tut!). Die Jünger aber schalten [epetímäsan] sie. Doch als Jesus das sah, wurde er unwillig [äganáktäsen = nicht ertragen können] und sprach zu ihnen…“. Matthäus schreibt nur: „Doch Jesus sprach…“

 

 

 

! Mk 10,17-22: Der reiche Jüngling {Mt 19,16-22}

Während Matthäus den Inhalt der Szene wiedergibt, versäumt Markus nicht, dazu auch die Emotion Jesu gegenüber dem reichen Jüngling zu schildern: „Da schaute Jesus ihn an, gewann ihn lieb und sprach zu ihm…“ (Mk 10,21).

 

 

 

! Mk 10,23-27: Die Gefahr des Reichtums {Mt 19,23-26}

Hier fasst Matthäus das, was Jesus sagt, wiederum inhaltlich zusammen, während Markus die ganze Szene als Gespräch zwischen Jesus und seinen Jüngern wiedergibt. Matthäus berichtet den Inhalt, Markus liefert das filmfertige Drehbuch.

  • Matthäus leitet ein: „Jesus sprach zu seinen Jüngern…“ (Mt 19,23).
  • Markus schreibt: „Und Jesus blickte um sich und sprach zu seinen Jüngern…“ (Mk 10,23).
  • Matthäus berichtet dann in einem Zuge, dass ein Reicher schwer in das Himmelreich hineingelangt und leichter ein Kamel durch ein Nadelöhr hindurch kommt.
  • Markus schildert nach dem ersten Satz Jesu, wie schwer die Reichen in das Reich Gottes hineingelangten, dass die Rede Jesu durch das Betroffensein der Jünger unterbrochen wird: „Die Jünger aber erschraken über seine Worte. Da wandte sich Jesus wiederum an sie und sprach: ‚Kinder, wie schwer ist es…’ Da erschraken sie noch mehr und sagten…“ (Mk 10,24-26).

Dieses „da erschraken sie noch mehr“ fehlt bei Matthäus, da er zusammenfassend nur einmal davon schreibt, dass die Jünger erschraken.

 

 

 

Mk 10,28-31: Frage nach dem Lohn {Mt 19,27-30}

Nur Matthäus schreibt die Worte Jesu, dass die Apostel auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten werden. Doch Markus berichtet, wie Jesus konkretisiert, wenn es darum geht, dass sie hundertfältig empfangen werden: „jetzt in dieser Zeit“ werden sie Häuser und Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder und Äcker empfangen, wenn auch unter Verfolgungen – und in der künftigen Welt ewiges Leben.“ (Mk 10,30). Auch Matthäus macht den Unterschied zwischen der Vergeltung im jetzigen und jener im ewigen Leben, doch fasst er dies ganz kurz mit dem einzigen Wort „und“: Er „wird es hundertfältig wieder empfangen und ewiges Leben gewinnen.“

 

Interessant ist, dass Lukas als einziger die Frau erwähnt, wenn Jesus davon spricht, alles zu verlassen. Es ist heute noch so, dass es als Eindringen in die Intimsphäre gilt, wenn man einen Araber fragt: „Wie geht es deiner Frau“. Wenn ich wissen will, wie es seiner Frau geht, dann frage ich: „Wie geht es deinem Haus“ – und wenn er will, kann er dann erzählen, wie es der Frau geht – aber fragen tut man das nicht direkt. So ist das Verlassen der Frau mitgemeint, wenn Jesus – wie das Matthäus und Markus erzählen – lediglich vom Verlassen des Hauses redet. Entweder hat Jesus Haus und Frau erwähnt, und Matthäus und Markus haben die Höflichkeitsform im Bericht beibehalten, oder Jesus hat die Höflichkeitsform bewahrt, und Lukas hat dann anfügt, dass die Frau zum Haus gehört. So oder so hat Jesus vom Verlassen der Frau gesprochen, da er ja auf die Frage des Petrus antwortet: „Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt.“ In diesem „alles“ sind gewiss auch die Frau und die Kinder dabei. Von daher kann man auch ableiten, dass Petrus kein eigenes Kind mitgenommen hat, Markus aber allenfalls später von ihm als Pflegesohn angenommen worden ist. Möglich ist, dass Petrus kinderlos war. Wenn er viele Kinder gehabt hätte, dann hätte dieser eine Pflegesohn nicht dem Hundertfachen entsprochen, das die Jünger schon in dieser Welt erhalten. War er aber kinderlos, dann war das Zuführen eines Pflegesohnes ein grosses Geschenk, das Jesus ihm machte, weil er seine Frau und sein Hab und Gut verlassen hatte.

 

 

 

! Mk 10,32-34a: Dritte Leidensankündigung {Mt 20,17-19a}

Beide Evangelisten berichten ähnlich, nur dass Markus einleitend die Szene und die Stimmung bildlich wiedergibt: „Sie waren aber auf dem Wege nach Jerusalem hinauf, und Jesus ging ihnen voran, und sie staunten; die Nachfolgenden aber fürchteten sich. Und zu sich genommen habend wieder die Zwölf, begann er, ihnen zu sagen…“ (Mk 10,32). Matthäus berichtet ohne diese Emotionen der Jünger: „Als Jesus aber nach Jerusalem hinaufstieg, nahm er die zwölf Jünger zu sich für sich [kat’ idían], und auf dem Weg sagte er zu ihnen…“ (Mt 20,17).

Eigenartig, dass hier bezüglich der Hervorhebung der Intimität die Rollen wie getauscht zu sein scheinen. Markus sagt schlicht, dass Jesus die Zwölf zu sich genommen hat. Matthäus setzt dazu „für sich“.

Dass Jesus vorausgesagt hatte, dass sie ihn anspeien würden, wird nur von Markus berichtet.

 

An dieser Stelle möchte ich erwähnen, was man schlussendlich im Überblick feststellen kann. Ab dem letzten Gang Jesu nach Jerusalem ist bei Markus nicht mehr die staunend-kindliche Art auszumachen. Zwar behält er seine erzählerische Art, über äussere Umstände zu berichten. Aber die Emotion, die in der Regel einer Kindheitserinnerung anhaftet, fehlt. Sie fehlte auch am Anfang seines Evangeliums beim Bericht über Johannes den Täufer und über Jesus in der Wüste. Wie in meiner Einführung (S.1) dargelegt, entspricht das den Schriften von Maria Valtorta. Sie berichtet, wie Jesus bei seinem letzten Weggang vom Haus des Petrus angeordnet habe, dass Margziam dieses Mal nicht nach Jerusalem mitkommen dürfe, da er noch zu jung sei, um all das zu verkraften, was dort geschehen werde. Bei meiner Untersuchung bin ich nicht etwa den mystischen Eingebungen von Maria Valtorta gefolgt, sondern habe bei der Betrachtung des Markusevangeliums festgestellt, dass sich ab Mk 10,32 in der Art des Erzählens etwas Grundlegendes ändert. Rückblickend hat die Erzählung von Maria Valtorta diesen Sachverhalt erleuchtet. So können wir für den letzten Gang Jesu nach Jerusalem, für sein Leiden und Sterben und dann auch für seine Auferstehung der gängigen Annahme folgen, dass Markus diese Inhalte später von Petrus erzählt bekam. Die eben behandelte Stelle passt sehr gut zu dieser Annahme: Petrus als emotionaler Mensch mit eher einfachem Gemüt mag später Markus darüber erzählt haben, dass sie beim letzten Gang Jesu nach Jerusalem von Staunen und Furcht ergriffen waren, während dem älteren und abgeklärteren Matthäus die Schilderung dieser Emotionen nicht so wichtig war.

 

 

 

Mk 10,34b: Vorhersage der Auferstehung {Mt 20,19b}

Auffallend ist die unterschiedliche Wiedergabe der Worte Jesu über seine Auferstehung. Bei Markus steht: „nach drei Tagen“ [metà treis häméras], während Matthäus und Lukas schreiben: „am dritten Tag“ [tä trítä häméra (Mt 20,19) bzw. tä häméra tä trítä (Lk 18,33)]. Wenn ich da an die Aussage von Maria Valtorta denke, die geschrieben hat, dass die Zeit Jesu im Grab durch das Gebet und den Schmerz seiner Mutter Maria verkürzt wurde, dann kann ich mir vorstellen, dass Markus – exakt wie er ist – genau jene Worte Jesu in seinem Evangelium aufgeschrieben hat, die Jesus gesagt und Petrus ihm getreulich berichtet hatte, während Matthäus als kluger Mann die Worte Jesu der nachhergehenden Tatsache angepasst hat. Lukas, der allem nachgegangen ist, was über Jesus geschrieben war, hat dann wohl die Variante des Matthäus übernommen. Das nur so als mögliche Erklärung.

 

 

 

! Mk 10,35-41: Die unpassende Bitte der Zebedäussöhne {Mt 20,20-23}

Markus schreibt die Szene in direkter Rede zwischen den Zebedäussöhnen und Jesus und wiedergibt somit als einziger Evangelist eine Diskussion zwischen zwei Aposteln und Jesus, die hin und her geht. Solche Gespräche gibt es sonst nur zwischen Petrus und Jesus. Wenn Jesus mit andern Aposteln spricht, dann ist die Regel: Ein Apostel stellt eine Frage, Jesus gibt eine Antwort. Ende. Oder Jesus stellt eine Frage, ein Apostel gibt eine Antwort, Jesus fährt weiter mit einer Erklärung. Ende. Ein Hin- und Her gibt es nur mit Petrus und eben einzig auch noch hier zwischen den Zebedäussöhnen und Jesus. Diese sagen eine Bitte an, Jesus fragt, um was sie denn bitten wollten, sie tragen die Bitte vor, Jesus fragt zurück: „Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke“, sie stimmen zu, Jesus gibt eine abschliessende Antwort. Ob Matthäus eine heilige Scheu hatte, dieses Gespräch in seiner direkten Form zu dokumentieren und deshalb die Mutter vorschob, die womöglich auch tatsächlich mitredete?

 

 

 

Mk 10,42-45: Die Pflicht der Ersten zu dienen {Mt 20,24-28}

Hier kann ich keinen wesentlichen Unterschied im Charakter der Erzählung herausschälen.

 

 

 

Mk 10,46-52: Blindenheilung in Jericho (Bartimäus) {Mt 20,29-34?}

Ähnlich wie bei der Erzählung über den Besessenen von Gerasa (Mk 5,1-20 // Mt 8,28-34) erzählt hier Markus von einem Blinden, der geheilt wird, und Matthäus von zwei. Es könnte sein, dass es sich um zwei ähnliche Szenen handelte, die unmittelbar nacheinander geschahen. Da der eine merkt, dass die andern geheilt worden sind, ruft auch er um Heilung – warum nicht? Will man die beiden Evangelien vergleichen, so stellt man – wie meistens bei Heilungen – fest, dass der Bericht von Markus auch hier wesentlich länger ist. Allerdings diesmal nicht wegen einer genaueren Beschreibung der Heilung oder wegen der Ausführung über Emotionen. Markus erzählt einfach mehr über die äusseren Umstände. Er nennt den Blinden beim Namen und erklärt diesen Namen – für jene, die nicht wissen, dass „bar“ Sohn bedeutet [ho hüiòs Timaíu, Bartimaios – der Sohn des Timäus, Bartimäus]. Des weitern schreibt Matthäus nur, dass Jesus sie herbeirufen liess. Wie sie zu Jesus kommen, ist für ihn nicht wichtig. Markus erzählt ausführlicher: „Da blieb Jesus stehen und sprach: ‚Ruft ihn her!’ Und sie rufen den Blinden, sagend zu ihm: ‚Mut! Steh auf. Er ruft dich.’ Er aber warf seinen Mantel ab, sprang auf und kam zu Jesus. Und Jesus wandte sich ihm zu und sprach…“

 

Während Matthäus die Art, wie die Blinden Jesus ansprechen, direkt auf Griechisch mit Herr [Kürie] wiedergibt, schreibt Markus das Wort vermutlich in der Originalsprache, wie der Blinde ihn damals ansprach: „Rabbuni“ [hrabbuní], und bringt somit etwas von der Stimmung herüber, die der Blinde mit seiner Anrede Jesus entgegen brachte.

 

Die Erzählung der Umstände könnte gut zu Petrus passen, der später seinem Sohn Markus möglichst genau und ausführlich erzählt hat, was da geschehen war. Väter erzählen manchmal ihren Kindern, indem sie Stimmen nachahmen.

 

Was die Schilderung von Emotionen und Berührungen betrifft, scheinen die beiden Evangelisten nach dem bisher Betrachteten die Rolle zu wechseln. Matthäus schreibt: „Da berührte Jesus, von Mitleid ergriffen, ihre Augen, und sofort wurden sie wieder sehend und folgten ihm.“ (Mt 20,34). Markus schreibt nichts von dieser Berührung, sondern: „Da sprach Jesus zu ihm: ‚Geh, dein Glaube hat dich gerettet.’ Und sofort sah er wieder und folgte ihm auf dem Wege.“ (Mk10,52). Hat ihn Jesus wirklich nicht berührt oder hat Petrus vergessen, seinem Sohn Markus später von dieser Berührung zu berichten?

 

 

 

! Mk 11,1-11: Einzug in Jerusalem {Mt 21,1-11}

Hier begegne ich zum dritten Mal dem Phänomen, dass Matthäus von zweien schreibt, während Markus nur eines erwähnt: Zwei Besessene bzw. ein Besessener in Gerasa (Mt 8,28-34 // Mk 5,1-20), zwei Blinde bzw. ein Blinder in Jericho (Mt 20,29-34 // Mk 10,46-52), und hier eine Eselin und ein Füllen bei Matthäus (Mt 21, 2.7), aber lediglich ein Eselsfüllen bei Markus (Mk 11, 2.4.7). Die gängige Erklärung, dass Matthäus wegen des alttestamentlichen Bezugs (Mt 21,5) die Eselin sozusagen dazugedichtet habe, überzeugt mich in keiner Weise. So ein Gedankengang funktioniert nur, wenn man die Annahme entgegen aller frühchristlicher Zeugnisse zum Dogma macht, dass der Evangelist Matthäus nicht identisch sei mit dem Apostel. Es ist wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis man über solche sehr dünn begründeten Theorien lachen und ernsthaft fragen wird, warum die Bischöfe und der Papst versäumt hätten, für solche Theologen die Exkommunikation wegen Glaubensabfalls gemäss can. 1364 festzustellen. Sicher wird die Zeit kommen – und sie ist schon da – dass man über die Exegeten des 20. Jahrhunderts den Kopf schüttelt mit der Feststellung, dass sie nicht an den geglaubt haben, den die Evangelisten mit ihrem Leben bezeugt hatten, nämlich an den Sohn Gottes.

Nach dieser Zwischenbemerkung muss ich aber auch gestehen, dass ich keine Antwort habe, warum Matthäus von einer Eselin und einem Füllen berichtet, während Markus nur vom Eselsfüllen schreibt. Gewiss wird es eine Erklärung geben, die auch gläubige Menschen werden nachvollziehen können.

 

Beim Bericht über den Einzug in Jerusalem scheint sich Matthäus auf das für ihn inhaltlich Wesentliche zu beschränken, während Markus das Gespräch zwischen den Dorfleuten und den Aposteln schildert: „Und sie gingen also und fanden das Füllen an einer Tür angebunden, draussen an der Strasse und banden es los. Und einige der dort Herumstehenden sagten zu ihnen: ‚Was macht ihr da – ihr bindet das Füllen los?’ Da antworteten sie ihnen, wie Jesus ihnen gesagt hatte, und man liess sie gewähren. Und sie brachten das Füllen zu Jesus…“ (Mk 11,4-7). Matthäus lässt diese Dorfszene einfach weg und berichtet nur das für ihn Wesentliche: „Die Jünger gingen hin und taten, wie Jesus ihnen aufgetragen hatte. Sie brachten die Eselin und das Füllen…“ (Mt 21,6-7). Dafür hat Matthäus zuvor einen sozusagen redaktionellen Einschub gemacht: „Dies aber ist geschehen, damit das Wort des Propheten erfüllt wurde, der spricht…“ (Mt 21,4-5). Dieser fehlt bei Markus. Markus hat den Platz, den Matthäus für diesen alttestamentlichen Bezug braucht, für die Beschreibung der Dorfszene gebraucht und wiedergibt damit ein Stimmungsbild hinter den Kulissen vor dem öffentlichen Einzug in Jerusalem. Das gilt auch für das Ende der Szene, wo Markus über den Rückzug Jesu mit seinen Jüngern berichtet: „…und Jesus ging, da es schon spät war, mit den Zwölfen nach Betanien hinaus.“ (Mk 11,11). Matthäus fügt unvermittelt die Szene der Tempelreinigung an.

 

Hier scheint ein erzählerisches Element durch, das der Dynamik entspringt, wenn ein Vater seinem Sohn etwas erzählt. Er tut es bildlich und ist bemüht, dass nichts vom Erlebten verloren geht.

 

 

 

Mk 11,12-14 und 20-25: Jesus verflucht den Feigenbaum {Mt 21,18-22}

Matthäus berichtet diese Szene in einem Mal, und zwar nach der Tempelreinigung. Markus berichtet, wie Jesus den Feigenbaum vor der Tempelreinigung verflucht, die Jünger die Worte Jesu hörten und wie am Morgen danach die Jünger sahen, dass der Baum „von den Wurzeln aus verdorrt“ war und Petrus Jesus darauf anspricht (Mk 11,20-21). Bei Matthäus heisst es nach dem Fluch Jesu: „Und augenblicklich verdorrte der Feigenbaum.“ (Mt 21,19). Auch hier habe ich keine Auflösung der Ungereimtheit zwischen den beiden Evangelisten. Gerne würde ich eine solche von einem gläubigen Exegeten zu wissen bekommen.

 

Bemerkenswert ist das Detail, dass Markus eine dynamische Beziehung Jesu zum Feigenbaum wiedergibt: „Da redete er ihn an und sprach“ [kaì apokritheìs eipen autä = und anhebend sprach er zu ihm]. Dieses „anhebend/Antwort gebend“ fehlt bei Matthäus. Damit bringt Markus das verurteilende Gefühl Jesu gegenüber dem Baum zum Ausdruck.

 

Es wäre eine eigene Betrachtung wert, was denn dieses Zerstörerische in Jesus wirklich ist. Wer der Irrlehre anhängt, dass Jesus nicht straft, wird mit dieser Betrachtung in Schwierigkeiten geraten. Auf Anfrage seiner Jünger, wie denn dieser Feigenbaum zugrunde gegangen sei, weist er sie lediglich auf die Kraft des Glaubens hin, der alles vermag (so berichten beide Evangelisten). Markus fügt noch die mahnenden Worte hinzu: „Und wenn ihr zum Beten tretet, so vergebet, wenn ihr gegen jemand etwas habt, damit auch euer himmlischer Vater euch eure Verfehlungen vergebe.“ (Mk 11,25). Auch das weist in die Richtung, dass wir die Strafe Gottes zu fürchten haben und darum mit unseren Mitmenschen bedingungslos barmherzig sein müssen. Ein Zusatz in späteren Textzeugen heisst denn auch (Mk 11,26): „Wenn ihr aber nicht vergebt, so wird euer Vater, der im Himmel ist, auch eure Verfehlungen nicht vergeben“ – was ewige Strafe bedeutet, wie er zum Feigenbaum sagt: „In Ewigkeit soll niemand mehr von dir eine Frucht essen“ (Mk 11,14) bzw. bei Matthäus: „In Ewigkeit sollst du keine Frucht mehr tragen“ (Mt 21,19). Dieses „in Ewigkeit“ deutet ja bestimmt auf die ewige Strafe an Menschen hin, denn für den Baum hätte ja der Fluch genügt: „für alle Zeit“, da der Baum ja ohnehin nicht ewig bleibt.

 

 

 

Mk 11,15-19: Die Tempelreinigung {Mt 21,12-17}

Hier erzählt Markus, was Matthäus nicht erzählt und umgekehrt. Nur bei Markus steht: „und (Jesus) duldete nicht, dass jemand ein Gerät durch den Tempel trug“. (Mk 11,16). Nur bei Matthäus steht: „Und Lahme und Blinde kamen zu ihm in den Tempel, und er heilte sie. Als aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten die Wunder sahen, die er wirkte, und wie die Kinder im Tempel riefen: ‚Hosanna dem Sohne Davids’, da wurden sie unwillig und sagten zu ihm: ‚Hörst du, was die da sagen?’ Jesus aber sprach zu ihnen: ‚Gewiss. Habt ihr noch nie gelesen: ‚Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dir Lob bereitet?’ Und er liess sie stehen, ging aus der Stadt hinaus nach Betanien und übernachtete dort.“ (Mt 21,14-17). Markus berichtet nichts von diesen Heilungen. Sonst schreibt er doch gerne über Heilungen und berichtet darüber meistens genauer als Matthäus. Stattdessen beschreibt Markus an dieser Stelle die Reaktion der Pharisäer auf den Vergleich Jesu bezüglich des Tempels und der Räuberhöhle: „Das hörten die Hohenpriester und Schriftgelehrten und sannen darauf, wie sie ihn vernichten könnten, denn sie fürchteten ihn, weil das ganze Volk über seine Lehre staunte. Und als es Abend wurde, gingen sie hinaus aus der Stadt.“ (Mk 11,18-19). Markus schreibt auch lediglich, dass sie aus der Stadt hinaus gingen, während Matthäus berichtet, dass sie nach Betanien gingen und dort übernachteten.

Die beiden Berichte haben gewisse wortwörtliche Übereinstimmungen (besonders in den Passagen, die ich hier nicht eigens zitiert habe). Dann haben sie aber auch eine Eigenständigkeit, bei der wir weder die Abhängigkeit in der einen noch in der andern Richtung eruieren können.

Lukas scheint beim Bericht über die Tempelreinigung eine sehr gestraffte Zusammenfassung zu machen und zitiert lediglich die zentralen Worte Jesu: „Mein Haus soll ein Haus des Gebetes sein; ihr aber habt es zu einer Räuberhöhle gemacht.“ (Lk 19,45-46). Die Hohenpriester und Schriftgelehrten erwähnt Lukas nicht.

 

 

 

Mk 11,27-33: Die Vollmachtsfrage {Mt 21,23-27}

Die Berichte sind etwa gleich lang und stimmen inhaltlich ziemlich genau überein; doch die Formulierungen sind weitgehend eigenständig.

 

 

 

Mk 12,1-12: Das Gleichnis von den bösen Winzern {Mt 21,33-46}

In der Erzählweise gibt es da einen Unterschied. Wiederum scheint Matthäus zusammenzufassen, als er schreibt: …er sandte „seine Knechte zu den Winzern, um seine Früchte in Empfang zu nehmen. Die Winzer aber ergriffen seine Knechte, schlugen den einen, töteten den anderen und steinigten den dritten. Nochmals sandte er andere Knechte, mehr als zuvor, und ihnen taten sie ebenso.“ (Mt 21,34-36). Markus erzählt, wie Jesus diese Knechte im Detail beschreibt: …er sandte „einen Knecht zu den Winzern, um von den Früchten des Weinberges von den Winzern in Empfang zu nehmen. Die aber ergriffen ihn, schlugen ihn und schickten ihn leer fort. Und nochmals sandte er einen anderen Knecht zu ihnen. Auch den schlugen sie auf den Kopf und beschimpften ihn. Da sandte er einen anderen, und den töteten sie. Und viele andere, die einen schlugen sie, die anderen töteten sie.“ (Mk 12,2-5). Es scheint, als möchte Matthäus dem Leser konzentriert mitteilen, was Jesus gesagt hat, während Markus davon ausgeht, dass der Leser Zeit hat – und so möchte er dem Leser möglichst bildlich nahe bringen, was Jesus erzählt hat bzw. möchte er vielleicht den Erzählstil Jesu durchscheinen lassen. Dies auch bei der Beschreibung des Sohnes. Matthäus: „Zuletzt sandte er ihnen seinen Sohn…“ (Mt 21,37). Markus: „Einen hatte er noch, seinen geliebten Sohn, den sandte er als letzten zu ihnen…“ (Mk 12,6). Matthäus schliesst die Szene mit den Gedanken der Hohenpriester und Pharisäer. Markus setzt am Schluss noch den Rahmen und wiedergibt so die Stimmung, die da aufkam: „So liessen sie von ihm ab und gingen weg“ – genauer noch übersetzt: „Und ihn verlassen habend, gingen sie weg.“ – Jetzt steht Jesus wieder alleine da – vielleicht mit seinen engsten Vertrauten.

 

 

 

Mk 12,13-17: Die Steuerfrage {Mt 22,15-22}

Mit etwas andern Worten wiedergibt Markus diese Fangfrage der Pharisäer und der Herodianer. Auch die schlagfertige Antwort des Herrn ist ähnlich, jedoch fast etwas kürzer gefasst als bei Matthäus.

Mk 12,18-27: Die sieben Brüder mit der Frau und die Frage nach der Auferstehung {Mt 22,23-33}

Ausser dass Matthäus tendenziell zusammenfassend schreibt und Markus eher ausführt, ist kein wesentlicher Unterschied in der Wiedergabe der Worte der Sadduzäer und Jesu festzustellen.

 

Matthäus fügt am Schluss der Szene noch hinzu: „Als die Volksscharen dies hörten, gerieten sie in Staunen über seine Lehre.“ (Mt 22,33). Erstaunlicherweise steht bei Markus nichts über die Volksscharen – er hat sie ja vermutlich selber nicht gesehen. Er schliesst die Szene mit dem Wort Jesu: „Ihr seid sehr im Irrtum.“ (Mk 12,27). Diesen Schlusssatz Jesu lässt Matthäus weg. Schliesslich hatte Jesus schon innerhalb seiner Antwort die Irrtümlichkeit der Sadduzäer erwähnt (Mt 22,29 // Mk 12,24).

 

 

 

Mk 12,28-34: Die Frage nach dem grössten Gebot {Mt 22,34-40}

Die Anzahl Verse dieser Szene ist bei Markus und Matthäus gleich, doch sind sie bei Markus wesentlich länger als bei Matthäus.

 

Markus erwähnt bei der Aufzählung Jesu, wie man Gott zu lieben hat: „aus deiner ganzen Kraft“ (Mk 12,30). Matthäus schliesst mit einem alttestamentlichen Bezug ab: „An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“ (Mt 22,40). Markus schreibt an der entsprechenden Stelle: „Grösser als diese ist kein anderes Gebot.“ (Mk 12,31).

 

Markus erwähnt dann noch die Bestätigung des verständigen Schriftgelehrten, der angereichert mit guten Bemerkungen alles nochmals wiederholt, was Jesus gesagt hatte (Mk 12,32-33). Darauf antwortet ihm Jesus: „Du bist nicht fern vom Reiche Gottes.“ (Mk 12,34). Während Matthäus mit der Antwort Jesu abschliesst, wiedergibt Markus das ganze anschliessende Gespräch zwischen Jesus und dem verständigen Schriftgelehrten (Mk 12,32-34 ohne Parallele bei Matthäus). Markus schliesst dann die ganze Szene ab mit der Bemerkung (die bei Matthäus fehlt): „Und niemand wagte mehr, ihm eine Frage vorzulegen.“

 

Auch bei der Erzählung dieser Szene könnte man eine erzählerische Sorgfalt sehen, wenn der Vater dem Sohn etwas berichtet – anschaulich, greifbar.

 

 

 

Mk 12,35-37: Messiasfrage und Frage nach dem Sohne Davids {Mt 22, 41-46}

Matthäus berichtet über dieses Gespräch im Tempel ausführlicher als Markus.

 

Ja Markus schreibt gar nicht von einem Gespräch, sondern er wiedergibt lediglich die Worte Jesu, während Matthäus berichtet, wie Jesus den Pharisäern eine Frage stellt, diese antworten und darauf Jesus ihre Antwort hinterfragt. Matthäus schliesst dann die ganze Szene ab mit der Bemerkung (die bei Markus fehlt): „Und keiner konnte ihm ein Wort erwidern, auch wagte von diesem Tag an niemand mehr, ihm eine Frage zu stellen.“ (Mt 22,46).

 

Im Vergleich zur vorhergehenden Szene scheint es, als hätten Markus und Matthäus in ihrer Erzählweise die Rollen getauscht hätten. Gut möglich, dass Petrus bei diesem Gespräch selber nicht dabei war und darum seinem Sohn Markus nur eine Zusammenfassung erzählt hat.

 

 

 

Mk 12,41-44: Das Opfer der Witwe {Lk 21,1-4}

Markus hebt hervor, dass Jesus hier seinen Jüngern eine Lehre erteilte: „Da rief er seine Jünger zu sich und sprach zu ihnen…“ (Mk 12,43). Lukas lässt dieses „zu sich rufen“ weg. Insgesamt beschreibt Markus diese ganze Szene genauer, bildhafter.

 

 

 

Mk 13: Apokalypse {Mt 24}

Markus beschreibt konkreter als Matthäus, wer mit Jesus redet.

  • Matthäus schreibt: „Da traten seine Jünger zu ihm, um ihn auf die Bauten des Tempels hinzuweisen.“ (Mt 24,1).
  • Markus schreibt konkreter: Da „sagte einer seiner Jünger zu ihm: ‚Meister, sieh, was für Steine und was für Bauten!“ (Mk 13,1).

 

Ebenso beim nächsten Abschnitt:

  • Matthäus: „Als er aber auf dem Berg der Ölbäume sass, traten die Jünger allein zu ihm und sprachen: ‚Sag uns, wann wird dies geschehen…?“ (Mt 24,3).
  • Markus: „Und er sass auf dem Berg der Ölbäume, dem Tempel gegenüber, fragten ihn, da sie allein waren, Petrus, Jakobus, Johannes und Andreas: ‚Sag uns, wann wird dies geschehen…?“ (Mk 13,3-4).

 

Dann folgt die Apokalypse, teils in den beiden Evangelien gleich, teils schreibt Matthäus etwas ausführlicher, teils Markus. Vielleicht kann man herausschälen, dass sich Markus mehr für das Konkrete, Praktische interessiert und Matthäus eher für die Grossereignisse. So z.B. mit dem Hinweis:

  • Markus 13,9: „Ihr aber, habt acht auf euch selber: Man wird euch den Gerichten überliefern und in den Synagogen geisseln, vor Statthalter und Könige stellen um meinetwillen, zum Zeugnis für sie.“
  • Matthäus schreibt die entsprechende Passage so (Mt 24,9): „Dann werden sie euch der Drangsal überliefern und euch töten. Und ihr werdet von allen Völkern gehasst werden um meines Namens willen.“

Sodann fehlt bei Matthäus eine konkrete Anweisung Jesu über das Verhalten der Jünger, über die Markus berichtet: „Und wenn sie euch hinführen, um euch zu überliefern, so seid nicht vorher besorgt darüber, was ihr reden sollt, sondern was euch in jener Stunde gegeben wird, das redet. Denn nicht ihr seid es, die dann reden, sondern der Heilige Geist.“ (Mk 13,11). Da tritt Markus als der Praktiker ans Licht (oder Petrus, der es ihm so erzählt?). Dafür fehlen bei Markus die Worte Jesu: „Und weil die Gesetzlosigkeit überhandnimmt, wird die Liebe der Vielen erkalten.“ (Mt 24,12) – das ist wiederum eine eher allgemeine Botschaft.

Es könnte scheinen, als ob Petrus in seiner Ängstlichkeit und Sorge seinem Sohn später möglichst genau von den Weisungen des Herrn berichtet und vorsieht, was zu tun ist.

 

Markus schliesst die Apokalypse, indem er innerhalb der letzten 5 Verse viermal das Wort „wachet“ aufscheinen lässt. Das vierte „wachet!“ ist dann das Ende des Kapitels. Die Botschaft des Wachens erklingt bei Markus kurz und intensiv. Matthäus schenkt der Botschaft des Wachens dann – sozusagen als Anhang zur Apokalypse – mit drei Beispielen insgesamt 15 Verse. Hier also Markus jener, der zusammenfasst und Matthäus (wie auch Lukas) jener, der die ausmalenden Beispiele Jesu über das Wachen wiedergibt. (Mt 24,37-51). Man könnte da noch das anschliessende Gleichnis von den törichten Jungfrauen anfügen, da es auch hier ums Wachen geht (Mt 25,1-13). Dieses Gleichnis fehlt bei Markus, wie auch jenes von den Talenten, sowie die Schilderung des jüngsten Gerichtes. Möglich, dass Markus die Schilderung dieser Gleichnisse bei Matthäus als ausführlich genug betrachtete und deshalb nichts beizufügen hatte.

 

Mk 14,1-2: Todesbeschluss gegen Jesus {Mt 26,1-5}

Matthäus ist hier klar ausführlicher, während Markus sich kurz fasst.

 

So schildert Matthäus genau, wer den Beschluss zur Tötung Jesu fasste und auch, wo er gefasst wurde: „Damals versammelten sich die Hohenpriester und Ältesten des Volkes im Palast des Hohenpriesters, der Kaiaphas hiess, und beschlossen, Jesus mit List zu ergreifen und zu töten.“ (Mt 26,3-4).

Markus beschreibt das zusammenfassend und ungenau: „Und die Hohenpriester und Schriftgelehrten suchten, wie sie ihn mit List ergreifen und töten könnten.“ (Mk 14,1).

 

 

 

Mk 14,3-9: Die Salbung in Betanien {Mt 26,6-13}

Markus ist hier wieder etwas genauer in der Erzählung als Matthäus.

 

Markus beschreibt die Art des Salböls und dass die Frau das Gefäss zerbrach. Sodann nennt er den Wert von mehr als dreihundert Denaren (während Matthäus nur „teuer“ schreibt). Dann schreibt Markus die Worte Jesu: „Denn Arme habt ihr allezeit bei euch und könnt ihnen Gutes tun, sooft ihr wollt…“ (Mk 14,7). Matthäus schreibt nur: „Denn Arme habt ihr ja allezeit bei euch…“ (Mt 26,11) und lässt die Bemerkung weg, dass man ihnen Gutes tun kann, sooft man will.

 

 

 

Mk 14,10-11: Der Verrat des Judas {Mt 26,14-16}

Hier ist wieder Matthäus genauer.

 

Die direkte Rede des Judas fehlt bei Markus. Auch schreibt Markus nur: Sie „versprachen, ihm Geld zu geben“ (Mk 14,11), während Matthäus genauer schreibt: „Sie aber wogen ihm dreissig Silberlinge dar.“ (Mt 26,15). Matthäus könnte hier als Drehbuch für einen Film viel eher gebraucht werden als Markus.

 

 

 

! Mk 14,12-16: Die Vorbereitung des Paschamahles {Mt 26,17-19}

Hier ist wieder Markus bildhafter.

 

Markus schreibt auf die Frage der Apostel, wo sie das Paschamahl vorbereiten sollen: „Da sandte er zwei seiner Jünger.“ Bei Matthäus geht nicht hervor, wie viele Jesus für diese erste Vorbereitung gesandt hat. Matthäus fasst sodann geradezu auffällig zusammen: „Geht in die Stadt zu dem und dem“ (Mt 26,18) – es ist wohl jedem klar, dass Jesus nicht gesagt hat „zu dem und dem“ [pròs tòn deina], sondern eher wie Markus schreibt: „Geht in die Stadt, dort wird euch ein Mann begegnen, der einen Wasserkrug trägt. Folgt ihm, und wo er hineingeht, da sagt zu dem Hausherrn…“ (Mk 14,13-14). Bei Matthäus fehlen die Sätze: „Und er wird euch ein grosses Obergemach zeigen, das mit Polstern belegt und hergerichtet ist. Dort bereitet es für uns.“ (Mk 14,15). Um einen Film zu drehen, müsste der Regisseur sich hier wieder an Markus halten, um sich die Aufgabe nicht unnötig schwierig zu machen. Ich stelle mir vor, dass Petrus bei der einen Szene dabei war, Matthäus wieder bei einer andern. Vielleicht könnte man anhand der detaillierten Beschreibungen eruieren, wer wo dabei war. Das scheint mir viel logischer als die gängige Annahme, dass die kürzere Beschreibung jeweils die ursprünglichere sei. Wer einen Unfall miterlebt hat, berichtet darüber viel detaillierter, als wer das Geschehen nur von Ferne mitbekommen hat.

 

Mk 14,17-21: Jesus bezeichnet den Verräter {Mt 26,20-25}

Einige Satzteile sind fast wortwörtlich identisch und auch sonst ist der Inhalt sehr ähnlich. Matthäus betont die Emotion der Jünger: „Da wurden sie sehr traurig“ [kaì lüpúmenoi sfódra] (Mt 26,22). Markus schreibt nur: „Da begannen sie, traurig zu werden“ [ärxanto lüpeisthai] (Mk 14,19). Sodann fügt Matthäus den Höhepunkt der Szene hinzu: „Judas, der ihn überlieferte, entgegnete: ‚Ich bin es doch nicht, Meister?’ Er sprach zu ihm: ‚Du hast es gesagt.“ (Mt 26,25). Diese Pointe fehlt bei Markus. Hier wäre der Regisseur eines Jesusfilmes wieder gut beraten, sich an Matthäus zu halten.

 

 

 

Mk 14,22-25: Die Einsetzung der Eucharistie {Mt 26,26-29}

Einige Satzteile sind fast wortwörtlich identisch und auch sonst ist der Inhalt sehr ähnlich. Einen wesentlichen Unterschied herauszuschälen, scheint mir im Rahmen meiner Darlegungen nicht nützlich.

 

 

 

! Mk 14,26-31: Voraussage der Verleugnung des Petrus {Mt 26,30-35}

Einige Satzteile sind fast wortwörtlich identisch und auch sonst ist der Inhalt sehr ähnlich. Matthäus schreibt, dass Petrus gesagte habe, er werde niemals [udépote] Anstoss nehmen (Mt 26,33). Markus schreibt: „doch ich nicht“ [all’ uk egóo] (Mk 14,29). Markus hebt so hervor, dass sich Petrus über die andern Jünger erhebt. Jesus sagt ihm dann: „Wahrlich, ich sage dir: du wirst heute, in dieser Nacht, ehe der Hahn zweimal kräht, mich dreimal verleugnen“ (Mk 14,30); bzw.: „Wahrlich, ich sage dir, in dieser Nacht, noch ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen“ (Mt 26,34). Markus wiedergibt dieses Jesuswort mit grösserer Sorgfalt. Schliesslich werden die Worte des Herrn dem Petrus genauer in Erinnerung geblieben sein, als dem Matthäus. Und den Widerspruch des Petrus hebt Markus dann hervor:

  • Mk 14,31: [ho dè ekperissõos elálei] „Er aber sagte nachdrücklichst (Interlinearübersetzung, Hänssler-Verlag 1987)/ genauer übersetzt: Er aber schwatzte/erzählte/lallte über die Massen noch eifriger“ (gem. Sprachlicher Schlüssel zum Griechischen Neuen Testament, Brunnen-Verlag 1970)
  • Mt 26,35 (ohne diese Emotion): [légei autõo ho Petros] „Petrus sagte zu ihm“.

Dieser feine, aber wesentliche Unterschied im Text könnte die Annahme stützen, dass Markus so schreibt, wie es ihm Petrus später beschämend erzählt hatte, während Matthäus den Petrus eher in Schutz nimmt und etwas beschönigend berichtet.

 

 

 

Mk 14,32-42: Die schlafenden Jünger im Gehöft Namens Gethsemani {Mt 26,36-46}

Einige Satzteile sind fast wortwörtlich identisch und auch sonst ist der Inhalt sehr ähnlich. Beim Gebet Jesu schreibt Markus: „Abba, Vater“ [abba ho patär] (Mk 14,36). Matthäus schreibt: „Mein Vater“ [páter mu] (Mt 26,39). Das ist das bekannte Phänomen, dass Markus Wörter in der Originalsprache in den griechischen Text einfügt, um die Stimmung wiederzugeben.

Als sie dann eingeschlafen waren, spricht Jesus Petrus an, bei Matthäus jedoch anders als bei Markus:

  • Mt 26,40: „Und er…fand sie schlafend und sprach zu Petrus: ‚So konntet ihr nicht eine Stunde mit mir wachen? Wachet und betet…“
  • Mk 14,37: „Und er…fand sie schlafend und sprach zu Petrus: ‚Simon, du schläfst? Konntest du nicht eine Stunde wachen? Wachet und betet…“

Auch dieser feine Unterschied im Text könnte die Annahme stützen, dass Markus so schreibt, wie es ihm Petrus später beschämend erzählt hatte, während Matthäus auch hier den Petrus eher in Schutz nimmt; er schreibt zwar, dass Jesus den Petrus angesprochen hat, dann aber geht er sofort zur allgemeinen (und nicht so persönlichen) Form über.

 

Ähnlich wird die Peinlichkeit beim zweiten Schlafen von Markus fein hervorgehoben:

  • Mt 26,43: „Und als er zurückkam, fand er sie wieder schlafend, denn die Augen waren ihnen schwer geworden.“
  • Mk 14,40: „Und als er zurückkam, fand er sie wieder schlafend, denn die Augen waren ihnen schwer geworden, und sie wussten nicht, was sie ihm antworten sollten.“

 

 

 

Mk 14,43-52: Die Gefangennahme Jesu {Mt 26,47-56}

Einige Satzteile sind fast wortwörtlich identisch und auch sonst ist der Inhalt sehr ähnlich. Matthäus fügt bei 26,56 einen Hinweis auf die Erfüllung der „Schriften der Propheten“ an, was seiner Erzählweise entspricht. Bei Markus fehlt das.

 

Bemerkenswert ist die schauerliche Szene, nachdem alle Jesus verliessen und flohen. Diese Szene finden wir nur im Markusevangelium und sie ist schauerlich-emotional: „Und ein Jüngling folgte ihm, mit einem Linnen auf blossem Leib bekleidet; den wollten sie ergreifen. Er aber liess das Linnen fahren und entfloh nackt.“ (Mk 14,52). Diese Schilderung erschüttert zutiefst. Jesus, der stets Mitleid hatte mit den Ausgestossenen, der die Menschen bei der Hand nahm, sie berührte und heilte, er wird im Moment der Gefangennahme allein gelassen. Jesus wird in der Nacht vom Hohen Donnerstag auf Karfreitag ganz denen überlassen, die gegen ihn sind. Wo sind die geblieben, die er geheilt, berührt, umarmt hat? Hier verwirklicht sich, was der Prophet Amos vorhergesagt hatte: „Selbst der Tapferste unter den Kämpfern, nackt muss er fliehen an jenem Tag.“ (Amos 2,16).

Gewisse ernstzunehmende, gläubige Kommentatoren meinen, dass Markus an dieser Stelle sich selbst beschreibt als jungen Mann, der Jesus nicht allein lassen wollte und dabei der Gewalt der Gegner Jesu erlag. Doch meine Analyse wird zeigen, dass Markus bei der Gefangennahme Jesu wohl kaum dabei war. Ich komme später bei meinen Schlussfolgerungen darauf zurück.

 

 

 

Mk 14,53-65: Jesus vor dem Hohen Rat {Mt 26,57-68}

Markus ist bei der Erzählung der Szene von Jesus vor dem Synedrion tendenziell ausführlicher, aber nicht durchgehend. So nennt z.B. Matthäus den Namen des Hohenpriesters (Mt 26,57), Markus schreibt nur vom „Hohenpriester“ (Mk 14,53).

Den Petrus im Hof des Hohenpriesters beschreibt Markus anschaulich: „…und er sass bei den Dienern und wärmte sich am Feuer“ (Mk 14,54). Matthäus beschreibt den Petrus mehr vom Inhalt her: „…er setzte sich bei den Dienern nieder, um zu sehen, wie die Sache ausgehen werde.“ (Mt 26,58).

Markus weist zweimal ausdrücklich darauf hin, dass die Zeugenaussagen gegen Jesus nicht übereinstimmten (Mk 14, 56.59). Dieser explizite Hinweis fehlt erstaulicherweise bei Matthäus.

Matthäus hebt dann eine Emotion des Hohenpriesters hervor: „Ich beschwöre dich beim lebendigen Gott, dass du uns sagst, ob du der Messias bist…“ (Mt 26,63). Markus schreibt lediglich: „Da fragte ihn der Hohepriester nochmals…“ (Mk 14,61). Ob bei dieser Szene Matthäus dabei war, während sich Petrus am Feuer wärmte?

 

 

 

Mk 14,66-72: Die Verleugnung des Petrus {Mt 26,69-75}

Die Unterschiede in der Erzählung sind nicht gross, und doch sind die beiden Texte erstaunlich unabhängig voneinander. Während Matthäus von zwei verschiedenen Mägden berichtet, die Petrus auf seine Zugehörigkeit zu Jesus ansprechen (Mt 26,71: „Als er aber zur Torhalle hinausging, sah ihn eine andere Magd und sagte zu denen, die dort waren…“), berichtet Markus von derselben Magd (Mk 66,69: „Und er ging hinaus in den Vorhof. Und als die Magd ihn erblickte, sagte sie wiederum zu den Umstehenden…“).

Bei Matthäus heisst es nach der dritten Leugnung: „Und sogleich krähte ein Hahn.“ (Mt 26,74, vgl. 26,34). Markus schreibt an der entsprechenden Stelle: „Und sogleich krähte der Hahn zum zweiten Mal.“ (Mk 14,72, vgl. 14,30).

 

Eigenartig ist, dass Matthäus die Emotionen von Petrus mehr hervorhebt als Markus. Bei der zweiten Leugnung schreibt Matthäus: „Und er leugnete wieder und schwur dazu: ‚Ich kenne den Menschen überhaupt nicht.“ (Mt 26,72). Markus schreibt nur knapp: „Er aber leugnete wieder.“ (Mk 14,70). Am Schluss der Szene schreibt Matthäus: „Und er ging hinaus und weinte bitterlich.“ (Mt 26,75). Markus schreibt nur: „Und er fing an zu weinen“ (Mk 14,72). Das erstaunt, da doch Markus die emotionale Seite von Petrus sonst eher nachzeichnet. Doch könnte ich mir vorstellen, dass es hier um eine so schlimme Sache geht, die Petrus für sein ganzes Leben zutiefst bereute, dass Markus hier seinen Vater nicht mehr bloss stellen möchte als unbedingt nötig. Für einen Sohn ist das schon emotional genug, wenn er schreibt, dass sein Vater anfing zu weinen. Für den Mitapostel Matthäus ist da das bitterliche Weinen nicht wirklich mehr, als für Markus die Feststellung, dass sein Vater zu weinen beginnt.

 

Wie anfänglich bei diesem Abschnitt gesagt, sind die Unterschiede in der Erzählung nicht gross, und doch sind die beiden Texte erstaunlich unabhängig voneinander. Wenn auch in der mir vorliegenden Synopse von Josef Schmid z.T. ganze Zeilen in Deutsch identisch sind, so habe ich im griechischen Text nur an einer einzigen Stelle 5 Wörter aneinander gefunden, die bei Matthäus und Markus identisch sind, und zwar: [hoti uk oida tòn anthroopon] – „Ich kenne diesen Menschen nicht“ (Mt 26,74 // Mk 14,71). Ich würde mal vorsichtig sagen, dass – wenn auch die Szene mit grosser Ähnlichkeit beschrieben wird – die beiden Evangelisten unabhängig voneinander geschrieben haben. Matthäus aus dem, was ihm Petrus später erzählt hat, und Markus ebenfalls gemäss dem, was ihm Petrus später erzählt hat. Es ist wohl anzunehmen, dass Petrus diese Szene später sowohl dem Mitapostel Matthäus als auch seinem Sohn Markus erzählt hat. Warum nicht? Dass da dann gewisse Redewendungen wortwörtlich gleich geschrieben werden, ist selbstverständlich und bedeutet noch längst nicht, dass einer dem andern abgeschrieben hat. Hätte aber einer dem andern abgeschrieben oder hätten sie beide aus einer gemeinsamen Quelle abgeschrieben, wären bestimmt ganze Sätze gleich und nicht nur ein einziges Mal 5 und ansonst nie mehr als 3 Wörter hintereinander.

 

 

 

Mk 15,1: Die Übergabe Jesu an Pilatus {Mt 27,1-2}

Der eine Vers bei Markus ist so lang wie die beiden Verse bei Matthäus. Die beiden Abschnitte sind unabhängig, inhaltlich aber gleich. Markus erwähnt, dass da auch noch die Schriftgelehrten und der ganze Hohe Rat dabei war, während Matthäus lediglich die Hohenpriester und Ältesten erwähnt.

 

 

 

Mk 15,2-5: Jesus vor Pilatus {Mt 27,11-14}

Die beiden Abschnitte sind unabhängig, inhaltlich aber gleich.

 

Die Worte des Pilatus und die Antwort Jesu werden von beiden Evangelisten identisch wiedergegeben: „Bist du der König der Juden?“ – „Du sagst es“ (Mt 27,11 // Mk 15,2). Auch hier würde ich jedoch nicht daraus schliessen, dass ein Evangelist dem andern abgeschrieben hat; denn alles, was in diesem Abschnitt nicht direkte Rede ist, ist eigenständig. Bestimmt haben die beiden Evangelisten eine gemeinsame Quelle: Ihre gemeinsame Quelle sind die gesprochenen Worte des Pilatus und die gesprochene Antwort Jesu. Warum soll nicht jemand z.B. aus dem Hohen Rat später die prägnante kurze Frage des Pilatus und die noch kürzere und nicht weniger prägnante Antwort Jesu wörtlich erzählt haben, vielleicht sogar den beiden Evangelisten direkt und unabhängig. Vielleicht war auch Maria, die Mutter Jesu, beim Verhör in der Nähe. Frauen sind ja sehr erfinderisch, wenn es darum geht, beim Geliebten zu sein, der in Not ist. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass schon die etwas längere Frage des Pilatus „Hörst du nicht, was sie alles gegen dich vorbringen?“ (Mt 27,13) bzw. „…Sieh, was sie alles gegen dich vorbringen“ (Mk 15,4), nicht von beiden Evangelisten identisch niedergeschrieben ist.

Prägnante Aussagen, die man sich gut merken kann, sind wörtlich gleich. Nicht so prägnant fassbare Worte sind in der Ausformulierung lediglich ähnlich. So sind die menschlichen Schwächen des Gedächtnisses lebendige Zeugen dafür, dass die Evangelisten eigenständig Zeugnis geben von Jesus. Hätten sie eine gemeinsame schriftliche Quelle gehabt, dann gäbe es keinen Grund dafür, dass prägnante Aussagen wörtlich übereinstimmen, während andere, etwas längere Aussagen nur sinngemäss übereinstimmen.

 

 

 

Mk 15,6-15: Die Verurteilung Jesu {Mt 27,15-26}

Markus berichtet Dinge, die Matthäus nicht berichtet und umgekehrt.

 

Markus beschreibt, warum Barabbas im Gefängnis war (wegen Mord und Aufruhr). Matthäus berichtet vom schrecklichen Traum, den die Frau des Pilatus ausgestanden hatte. Auch die Händewaschung des Pilatus wird nur von Matthäus berichtet. Markus seinerseits lässt den Widerwillen des Pilatus gegenüber dem Volk mit der kurzen Bemerkung durchblicken: „Da liess Pilatus, um das Volk zu befriedigen, ihnen den Barabbas frei, Jesus aber…“ (Mk 15,15).

 

Der Inhalt dieses Abschnittes ist Zeile für Zeile vergleichbar, einmal mit einer Lücke Seitens Markus, einmal mit einer Seitens Matthäus. Die Formulierungen sind jedoch im Detail verschieden. Ich stelle generell grosse Eigenständigkeit und vielfach ganz eigene Wortwahl für den gleichen Inhalt fest. Z.B.:

  • das Aufwiegeln des Volkes durch die Hohenpriester wiedergibt Matthäus mit [épeisan tùs óchlus] – „Sie überredeten die Leute“ (Mt 27,20) // Markus schreibt: [anéseisan tòn óchlon] – „Sie hetzten die Menge auf“ (Mk 15,11).
  • Oder einen Sachverhalt, wo man meint, er könne wohl kaum verschieden wiedergegeben werden: „Er liess ihn geisseln und übergab ihn zur Kreuzigung“ – in der deutschen Synopse von Josef Schmid in beiden Evangelien wörtlich gleich. Aber der griechische Text ist verschieden: Matthäus 27,26: [tòn dè Iäsun fragellóosas parédooken hína stauroothä] – „den aber Jesus gegeisselt habend übergab er, dass er gekreuzigt werde“. // Markus 15,15: [kaì parédooken tòn Iäsun fragellóosas hína stauroothä] – und er übergab den Jesus, gegeisselt habend, dass er gekreuzigt werde.

Solche Unterschiede im Text, die inhaltlich kaum oder überhaupt keine Differenz machen, offenbaren die Eigenständigkeit der Evangelisten.

 

 

 

Mk 15,16-20a: Die Verspottung Jesu durch die Soldaten {Mt 27,27-31a}

Matthäus geht eher etwas mehr ins Detail, z.B.

  • Mt 27,28-29a: „Und sie zogen ihn aus und legten ihm einen scharlachroten Mantel um, flochten einen Kranz aus Dornen und setzten ihn ihm aufs Haupt und gaben ihm ein Rohr in seine Rechte. Dann fielen sie vor ihm aufs Knie und verspotteten ihn, indem sie sprachen:…“
  • // Mk 15,17-18a: „Und sie zogen ihm einen Purpurmantel an und setzten ihm einen Dornenkranz auf, den sie geflochten hatten, und huldigten ihm:…“.
  • Dann folgt die direkte Rede der Soldaten, die wortwörtlich gleich ist bei beiden Evangelisten: [chaire, basileu tõov Iudaíoon] „Sei gegrüsst, König der Juden!“ Da scheint es sich wieder um vier Wörter in direkter Rede zu handeln, die möglicherweise von einem Soldaten später erzählt wurden. Kann sein, dass sich ein Soldat bekehrt hat. Möglich wäre auch, dass die Soldaten später damit geblufft haben, was sie getrieben hatten – wobei dieses letztere eher unwahrscheinlich ist nach dem Schrecken der Auferstehung und aus demselben Grund auch Bekehrungen gewisser Soldaten wahrscheinlicher sind.

In der Sache übereinstimmend, sind die beiden Berichte über die Verspottung Jesu in der Ausformulierung sehr eigenständig. Eine Ausnahme ist der letzte Satz: „Und als sie ihn verspottet hatten, zogen sie ihm den Mantel (Mt)/Purpurmantel (Mk) aus und seine eigenen Kleider an“. Hier stimmen die beiden griechischen Sätze in allen Details – ausser dem Mantel (Matthäus) bzw. Purpurmantel (Markus) – überein. Aufgrund dieses einzigen übereinstimmenden Satzes kann wohl keine Theorie aufgebaut werden. Da beide das gleiche erzählen, ist gut möglich, dass auch einmal eine Formulierung über ein einprägsames Geschehen (ausnahmsweise) identisch ist. Vielleicht haben die beiden Evangelisten auch eine gemeinsame Quelle, z.B. ein Soldat griechischer Sprache, der das genau mit diesen Worten erzählt hatte.

Die Wege der Inspiration des Heiligen Geistes werden wohl ein Geheimnis bleiben. Jedenfalls wäre es unwissenschaftlich – in welcher Richtung auch immer – aus einer Vermutung ein wissenschaftliches Dogma zu machen oder sich gar anzumassen, im Religionsunterricht oder im Vorwort einer Bibel, das die durchschnittlichen Leser als Tatsache konsumieren (und den Wissenschaftern unreflektierten Glaubensgehorsam schenken), abzudrucken. Selbst wenn ganze Passagen wortwörtlich übereinstimmen würden, dürfte man die Möglichkeit z.B. einer wörtlichen Inspiration oder einer nicht zu erklärenden Gedankenübertragung niemals a priori ausschliessen. Ein seriöser Wissenschafter muss zudem immer damit rechnen, dass es auch auf eine Weise geschehen sein kann, an die noch gar niemand gedacht hat. Alles Andere ist nicht nur unwissenschaftlich, sondern arrogant und letztlich dumm.

 

 

 

Mk 15,20b-21: Jesu Gang nach Golgotha {Mt 27,31b-32}

Die Formulierungen sind eigenständig, in der Sache übereinstimmend. Markus ist in diesem kleinen Abschnitt ausführlicher, da er den Simon von Cyrene genau identifiziert als „den Vater des Alexander und Rufus“.

 

 

 

Mk 15,22-32: Die Kreuzigung {Mt 27,33-44}

Die beiden Evangelisten berichten übereinstimmend. Einmal schreibt Matthäus etwas, das Markus weglässt, dann schreibt wieder Markus etwas, das bei Matthäus fehlt. So schreibt z.B. Markus als einziger Evangelist: „Es war aber die dritte Stunde, als sie ihn kreuzigten“ (Mk 15,25). Matthäus schreibt als einziger über die Soldaten nach der Kreuzigung: Sie „setzten sich nieder und bewachten ihn dort.“ (Mt 27,36).

Auch ist bemerkenswert, wie Matthäus zweimal hervorhebt, dass sich die Spottenden auf den Titel „Gottes Sohn“ berufen, den Jesus für sich in Anspruch genommen hatte (Mt 27,40 und 43). Markus lässt dies weg. Möglich, dass Matthäus die spöttische Benennung Jesu als Gottes Sohn tiefer erschüttert hat als Markus (der ja nicht so nahe am Geschehen war wie Matthäus).

 

Eigenartig ist die wortwörtliche Übereinstimmung gewisser Passagen, die dann aber doch nicht konsequent durchgezogen wird. So z.B. die direkte Rede der spottenden Hohenpriester und Schriftgelehrten (Abweichungen kursiv):

  • Mt 27,42: [állus ésoosen, heautòn u dünatai sõosai. Basileùs Israäl estin, katabátoo nün apò tu stauru kai pisteúsomen ap autón] „Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten. König Israels ist er, er steige herab jetzt vom Kreuz, und wir werden an ihn
  • Mk 15,31b-32a: [állus ésoosen, heautòn u dünatai sõosai. ho christòs ho Basileùs Israäl, katabátoo nün apò tu stauru, hína ídoomen kai pisteúsomen] „Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten. Der Gesalbte, der König Israels, er steige herab jetzt vom Kreuz, damit wir sehen und glauben.“

Solche wortwörtlichen Übereinstimmungen und dann doch wieder Nicht-Übereinstimmungen tendiere ich als je authentisches Zeugnis zu deuten. Ich nehme an, dass die Evangelisten generell ein gutes Gedächtnis hatten – sonst hätten sie ja nicht geschrieben. Ich nehme an, dass Markus wie auch die andern Evangelisten sein Evangelium geschrieben hat, weil viele Menschen um ihn das wünschten oder ihn gar dazu drängten. Dieses Drängen hat gewiss seine Ursache darin, dass die Menschen gestaunt hatten, wie genau er alles erzählen konnte und deshalb wünschten, dass dieses Wissen für spätere Zeiten festgehalten wird. Mir kommt da die herzzerreissende Geschichte jenes Mädchens in den Sinn, das im Kindergarten mit grossem Talent zeichnete. Als sie ihre Zeichnung der Kindergärtnerin zeigte, wurde sie getadelt mit den Worten: „Ich habe euch den Auftrag gegeben, abzuzeichnen, und du hast nicht abgezeichnet, sondern durchgepaust.“ Zutiefst verletzt hat sich die Kleine verteidigt, doch vergeblich. So kam und kommt es mir manchmal vor, wenn – sogar unter dem Deckmantel der Wissenschaft – behauptet wird, dass z.B. der Matthäus und der Lukas dem Markus und aus einer andern, nie jemals nachgewiesenen Quelle abgeschrieben hätten. Sicher bezeugt Lukas selber, dass er von vielen Berichten weiss, die über Jesus geschrieben worden waren (Lk 1,1). Es ist aber sehr gut denkbar, dass er diese Berichte wohl gelesen hatte, aber keineswegs vor sich hatte, als er sein Evangelium schrieb. Die Nötigung zum genauen Zitieren ist eine inspirationstötende Erfindung des 20. Jahrhunderts und war zur Zeit der Evangelisten kein zwingendes Korsett.

Nun also zurück zur Leidensgeschichte unseres Herrn. Weil er gekreuzigt wurde, können wir zu ihm gehen und ihn trösten, wenn wir gekreuzigt werden.

 

 

 

Mk 15,33-41: Der Tod Jesu {Mt 27,45-56}

Während die dritte Stunde nur von Markus genannt wurde, wird die sechste und die neunte Stunde – die Zeitspanne der Finsternis – von allen drei Evangelisten genannt.

 

Bemerkenswert ist, dass bei dieser wichtigen Szene auch Matthäus die Worte Jesu in der Originalsprache wiedergibt. Doch der genaue Laut ist verschieden:

  • Mt 27,46: [Elì Elì lemà sabachthaní] Eli Eli, lema sabachtani
  • Mk 15,34: [Elooi Elooi lema sabachthani] Eli Eli, lema sabachtani

M.E. ist das ein Hinweis darauf, dass Jesus in der Agonie nicht deutlich gesprochen hat und die beiden Evangelisten auf ihrer je eigenen Fassung beharren. Das Beharren auf der eigenen Fassung ist ein bekanntes Phänomen besonders bei ganz zentralen Ereignissen. Das gilt nicht nur für die Evangelien. Auch bei Katastrophen oder bei einschneidenden Erlebnissen wie einem Unfall, einer Geburt, eines Todesfalls etc. kennen wir das Phänomen, dass bei mehreren Menschen, die dasselbe erlebt haben, jeder den andern korrigiert und sagt, wie es nach seiner Wahrnehmung wirklich war. Beim Bericht über die Auferstehung komme ich nochmals darauf zurück.

 

Die Übersetzung der letzten Worte Jesu ist bei Matthäus und Markus dem Sinn nach gleich, dem Wortlaut nach jedoch sehr eigenständig:

  • Mt 27,46b: [Theé mu Theé mu, hina tí me egkatélipes] „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
  • Mk 15,34b: [ho Theós mu ho Theós mu, eis tí egkatélipés me] „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Zwar kann es kaum anders als synonym übersetzt werden, da im Deutschen das Wort Gott gleich geschrieben wird, ob wir ihn anrufen oder ob wir über ihn reden, und bei der Anrede kann im Deutschen kein Artikel gesetzt werden kann (z.B. „der mein Gott, der mein Gott, warum hast du mich verlassen“). Doch ist auch für den Nicht-Griechen augenscheinlich, dass die Übersetzung der Worte Jesu ins Griechische bei beiden Evangelisten ganz eigenständig ist – wenn auch inhaltlich fast gleich.

! Mk 15,42-47: Das Begräbnis Jesu {Mt 27,57-61}

Da haben wir es endlich wieder einmal mit einem Abschnitt zu tun, der bei Markus bedeutend ausführlicher ist als bei Matthäus. Eine wesentliche Information gibt uns allerdings Matthäus, die bei Markus fehlt. Über das Grab schreibt Markus nur: Er liess ihn „in einem Grab bestatten, das in einen Felsen gehauen war…“. (Mk 15,46) Matthäus schreibt genauer: Er liess ihn „in seinem neuen Grab bestatten, das er in einen Felsen hatte hauen lassen…“ (Mt 27,60).

Markus jedoch erwähnt:

  • den Rüsttag und erklärt diesen (Vers 42)
  • dass Joseph von Arimathäa ein vornehmer Ratsherr war (Vers 43a)
  • dass Joseph „sich ein Herz“ fasste, um zu Pilatus zu gehen (Vers 43b)
  • die Verwunderung von Pilatus über den Tod Jesu (Vers 44)
  • dass Pilatus den Tod durch den Hauptmann bestätigen liess (Vers 45)
  • dass Joseph Leinwand kaufte
  • dass Joseph Jesus vom Kreuz abnehmen liess

Das alles erfahren wir von Markus, während Matthäus nicht über diese Details berichtet. Vielleicht hatte Petrus eine eindrückliche Begegnung mit Joseph von Arimathäa, von der er seinem Sohn Markus später ausführlich berichtet?

 

 

 

Mt 27,62-66: Versiegelung und Bewachung des Grabes

Nur Matthäus berichtet von der Versiegelung und Bewachung des Grabes. Es ist ihm zweifellos wichtig, die Juden von Jesus zu überzeugen.

 

 

 

Mk 16,1-8: Die Frauen gehen zum Grab und Jesus erscheint ihnen {Mt 28,1-10}

Beim Auferstehungsbericht gerät sozusagen alles aus den Fugen. In der Konkordanz gibt es beinahe gleichviel Diskordanz wie Konkordanz. Wie bei der Szene vom Tode Jesu erwähnt, gibt es das allgemein menschliche Bedürfnis, bei zentralen, unerwarteten und einschneidenden Ereignissen, den andern eine ganz persönliche Version mitzuteilen und auf dieser Version auch dann zu beharren, wenn sie im Widerspruch zu andern Versionen steht. Noch mehr als z.B. bei Zeugen über eine Katastrophe gilt das für Ereignisse, die dem eigenen Leben unerwartet eine fundamentale Wende geben. Wenn wir Menschen zuhören, die z.B. durch einen Unfall einen Verwandten verloren haben, der ihnen so nahe stand, dass ihr Leben nach diesem Geschehen ganz anders weiterging als vorher (z.B. der plötzliche Tod eines Ehepartners oder eine unerwartete plötzliche Heilung von einer schweren unheilbaren Krankheit), dann stellen wir fest, dass sie selber erzählen wollen und kaum jemand anders zu Wort kommen lassen. Selbst wenn diese Menschen beim Ereignis selber nicht einmal dabei waren, sind sie über jedes Detail informiert und berichten es in ihrer Version und scheuen sich dabei nicht, mit ihrer Version andern zu widersprechen.

 

Bei andern Ereignissen, die uns nicht so nahe stehen, tendieren wir des angenehmen Bauchgefühls wegen, die Erzählung einander anzugleichen. Denn das Gefühl, mit den gemütlich Zusammensitzenden eins zu sein, ist wichtiger als der Inhalt des Gesagten. Ist das Erzählte aber etwas, das mein Leben entscheidend verändert hat und ihm auch jetzt nachhaltig die entscheidende Richtung gibt, dann ist das Gefühl des Einsseins mit mir selber, ja das Gefühl, meine eigene Identität zu wahren, wesentlich wichtiger als das Gefühl, mit den Mitmenschen in Einheit zu sein. Darum driften die Evangelien, von denen wir sonst weitgehend den Eindruck haben, dass sie sich bei der Erzählung diverser Szenen da und dort angleichen, bei dem Bericht über die Auferstehung völlig auseinander.

 

Der einzige Satz, der bei Matthäus und bei Markus wörtlich übereinstimmt, ist: „Er geht euch voraus nach Galiläa. Dort werdet ihr ihn sehen“ (Mt 28,7 // Mk 16,7). Dieser Satz, so sehr er einer vordergründigen Logik entbehrt, warum denn die Jünger die weite Reise nach Galiläa auf sich nehmen sollten, um dort Jesus zu sehen, scheint derart archaisch zu sein, dass er von beiden Evangelisten Wort für Wort rapportiert wird, während die Erzählung darum herum nicht übereinstimmend ist.

 

 

 

Mk 16,9-20: Der kanonische Markusschluss

Höchst interessant ist der Schluss des Markusevangeliums. Er fasst zusammen, was wir aus der Apostelgeschichte (Emmausjünger) und aus dem Johannesevangelium kennen. Der geringe Umfang dieser Arbeit lässt es nicht zu, mich in die Kontroverse über die Authentizität dieses Abschnittes einzumischen. Bisher hatte ich stets die Meinung vertreten, dass das Auseinanderhalten von Authentizität und Kanonizität eine Erfindung der Moderne sei. Z.B. war für die Väter in Bezug auf die Apokalypse immer klar, dass nicht kanonisch ist, was nicht authentisch ist (wer die Zugehörigkeit der Apokalypse ablehnte, begründete dies oft damit, dass sie nicht vom Apostel verfasst sei. Wer diese Zugehörigkeit verfocht, hat dies meistens u.a. mit der Authentizität begründet. Mir ist kein Zeugnis aus der frühen Christengeschichte bekannt, dass jemand gesagt hatte: Die Apokalypse stammt zwar nicht vom Apostel, aber sie gehört trotzdem zur Bibel. Auch dass die gewaltige Vision stattgefunden hatte, wurde von denen, die die Apokalypse zur Bibel gerechnet haben wollten, immer selbstverständlich angenommen).

 

Die Kontroverse um die Authentizität des kanonischen Markusschlusses ist wirklich sehr speziell. Die Frage nach der Kanonizität und die Frage nach der Authentizität sind schon in der Antike nicht eng verknüpft. Der vorsichtige Kommentar der Jerusalemer Bibel schreibt: „Wenn sich auch nicht erweisen lässt, dass er (der kanonische Markusschluss) Markus zum Verfasser hat, so bleibt er dennoch ein authentisches Zeugnis der ersten christlichen Generation.“ Der Jerusalemer Kommentar schliesst also nicht kategorisch aus, dass Markus selber den Schluss seines Evangeliums geschrieben haben könnte. Wenn auch Markus in der Regel bildlich und ausführlich erzählt, so ist es ihm doch nicht fremd, in gewissen Teilen zusammenfassend zu berichten. Das haben wir bei der Messiasfrage (Mk 12,35-37), beim Todesbeschluss gegen Jesus (Mk 14,1-2) sowie bei der Vereinbarung über den Verrat des Judas (Mk 14,10-11) gesehen.

 

 

 

 

 

 

 

Persönliche Schlussfolgerungen

Vorbemerkung

Rückblickend stelle ich fest, dass ich intuitiv dort, wo ein Bericht ausführlicher ist, annehme, dass da ein persönliches Erlebnis dahinter steht. Dieses Vorgehen entspringt der selbstverständlichen Erfahrung, dass jemand ausführlicher berichtet, wenn er selber betroffen ist oder selber dabei war, als wenn jemand etwas nur vom Hörensagen erzählt. Ein augenscheinliches Beispiel dazu ist der Bericht über das Letzte Abendmahl bei Johannes. Keiner wiedergibt die Reden und Gebete Jesu so ausführlich wie er. War nicht er dem Herrn während des Letzten Abendmahls so nahe wie kein anderer? Und hat nicht er den Verstand unter dem Kreuz bewahrt, während die andern in der Zerstreuung waren? Sein Gedächtnis kam dabei nicht so durcheinander, wie das bei Petrus oder bei Matthäus der Fall war, die erst nach den Erscheinungen des Auferstandenen wieder allmählich klar zu Verstand kamen. Ist diese Sichtweise unwissenschaftlich? Oder muss denn Wissenschaft zwingend vom gesunden Menschenverstand abgekoppelt werden?

 

Vielleicht könnten wir noch manche aufschlussreichen Erkenntnisse zu den Evangelisten erlangen, wenn wir mit dieser Methode die Berichte der Evangelisten betrachten würden:

  • Ausführlichkeit kann darauf hinweisen, dass der schreibende Evangelist selber dabei war bzw. selber tief von der Sache betroffen war.
  • Eine zusammenfassende Schilderung könnte darauf hinweisen, dass der Schreibende nur um der Gesamtschau willen die Dinge berichtet, aber nicht, weil er selber Zeuge war (so z.B. der Auferstehungsbericht bei Markus).

 

 

 

Bemerkungen zu Matthäus

Als Zöllner war Matthäus gewiss von Haus aus ein Gelehrter, einer, der schreiben konnte und mehrere Sprachen beherrschte. Anhand der gemachten Beobachtungen sehe ich Matthäus als Theologen, den die Inhalte mehr interessieren als äussere Umstände, Gesten und Emotionen. Dabei möchte ich auf die urkirchliche, natürliche Annahme verweisen, dass der Apostel Matthäus aufgrund des Erlebten und kraft der Führung durch den Heiligen Geist sein Evangelium geschrieben hatte, und dass er vom Interesse beseelt war, die Geschehnisse in Verbindung mit den alttestamentlichen Prophetien zu bringen, um möglichst viele Juden für Christus zu gewinnen. Dabei liess er äusserliche Umstände oft weg, um den Text nicht zu sehr zu belasten und den Leser auf das zu lenken, was theologisch relevant ist. Matthäus interessieren die Gleichnisse und Weisungen Jesu. Matthäus wiedergibt die Reden Jesu meistens ausführlicher als Markus. Matthäus fasst sich jedoch oft knapper als Markus, wenn es darum geht, äusserliche Umstände wie das Geschrei der Dämonen oder sonstige emotionale Stimmungen zu beschreiben. Manchmal lässt Matthäus solche Beschreibungen sogar ganz weg (z.B. das Abheben des Daches und das Durchschlagen der Decke bei der Heilung des Gelähmten Mt 9,1-8 // Mk 2,1-12). Generell fasst sich Matthäus kürzer als Markus (allerdings gibt es dabei Ausnahmen, v.a. am Anfang und im zweiten Teil des Evangeliums). Matthäus verweist manchmal auf alttestamentliche Bezüge, was Markus kaum tut.

 

Warum aber das Matthäusevangelium wesentlich umfangreicher ist als das Markusevangelium, liegt daran, dass Matthäus Reden und Predigten ausführlich wiedergibt, über die Markus schlichtweg schweigt (Bergpredigt, diverse Gleichnisse etc.). Dazu kommt die Kindheitsgeschichte, über deren Umstände ich hier näher eingehen möchte. Dabei stelle ich die naheliegende Annahme in den Raum, dass Matthäus ein Zeitzeuge der Sterndeuter aus dem Morgenland, der Flucht der Heiligen Familie und des Kindermordes von Bethlehem war. Warum? – Bei Matthäus fällt auf, dass er Jesus besonders schnell folgt. Matthäus und Markus berichten übereinstimmend: Jesus sagte zu ihm „folge mir nach“, und er stand auf und folgte ihm nach (Mt 9,9b // Mk 2,14b). Ein einziger Vers genügt, um diese Berufung zu erzählen. Kommt hinzu, dass Matthäus jener Apostel war, der einen massiven sozialen Abstieg in Kauf nahm, als er seine Zollstätte verliess. Während die Fischer sich bei der Nachfolge Christi menschlich einen Aufstieg ausrechnen konnten, so ging Matthäus bei der Nachfolge Christi ein erhebliches Risiko ein. Da musste doch ein Aha-Erlebnis von aller Deutlichkeit dahinter stecken!

Die Erklärung für dieses Aha-Erlebnis ist einfach: Matthäus war Zöllner. Damals – wie in manchen Kulturen heute noch – war der Beruf eine Gegebenheit der Familie. Wir können annehmen, dass schon der Vater und der Grossvater von Matthäus Zöllner waren. Matthäus sass demnach schon als Kind neben seinem Vater am Zoll. Weiter können wir annehmen, dass Matthäus älter war als Jesus, da er zur Zeit seiner Berufung ein etablierter Zöllner mit grossem Eigentum war (grosses Gastmahl im Anschluss an seine Berufung – Mt 9,10–13). Zur Annahme, dass Matthäus älter war als Jesus, passen auch die Darstellungen sowohl in der Ikonographie des Ostens als auch der Bildkunst des Westens. Aus all dem kann man schliessen, dass er als Kind bzw. als Jugendlicher die Sache mit der Geburt Jesu und dem Kindermord von Bethlehem mitbekommen hat. Dass die drei Weisen mit ihrem ganzen Gefolge den Zöllnern „durch die Latte“ gegangen waren, war unter den Zöllnern bestimmt ein viel diskutiertes Thema. Auch die Flucht der Heiligen Familie dürfte angesichts des grausamen Kindermordes in Bethlehem ein Diskussionsthema gewesen sein, und zwar weit über die Grenzen Judäas hinaus. So steht doch die Folgerung nahe, dass bei der Berufung des Matthäus in dessen Gedanken ein „Aha-Erlebnis“ stattfand: Das ist dieser König, der damals geboren wurde und dem Herodes nach dem Leben trachtete. So konnte er sich schnell und leicht für die Nachfolge entscheiden.

 

Nachdem ich einfache Gemüter erfreut und gebildete Leser etwas strapaziert habe, möchte ich gleich zu einer kühnen Annahme anheben: Warum sollte es die göttliche Vorsehung nicht eingerichtet haben, dass Matthäus die drei Sterndeuter gesehen hatte und von ihnen derart beeindruckt war, dass er sich schon damals einige Notizen gemacht hatte? Die früheste mögliche Abfassung des Matthäusevangeliums also zum Zeitpunkt, als Jesus 1½ Jahre alt war – dann kamen nämlich die Sterndeuter zum „Haus“ (Mt 2,11), wo sich die Heilige Familie in Bethlehem eingerichtet hatte. Vielleicht hatte der junge Matthäus seinen Vater gedrängt, die edlen Sterndeuter aus dem Morgenland nicht zu kontrollieren, sondern ihnen das Geleit zu geben. Vielleicht ist Matthäus zum ersten Mal Jesus begegnet, als die Heilige Familie an der Zollstätte seines Vaters durchgelassen wurde. Vielleicht ist dieser letzte Gedanke doch etwas gewagt, zumal Jesus 28½ Jahre später Matthäus in Galiläa (und nicht in der Nähe von Bethlehem) berufen hat. Es wäre allerdings interessant zu wissen, wie oft die Römer ihre Zöllner versetzt hatten, um die Disziplin zu wahren. So oder so aber wage ich zu behaupten, dass dieser Gedankengang der Wirklichkeit näher kommt als jene theoretischen Überlegungen, die den Kindermord und die Flucht nach Ägypten als reine Erfindung des Evangelisten verunglimpfen.

 

Schliesslich möchte ich bezüglich des Anfangs des Matthäusevangeliums noch eine Vermutung in den Raum stellen. Der Kindermord hatte beim jungen Matthäus gewiss einen erschütternden Eindruck hinterlassen, gleichgültig, ob er ihn selber erlebt hatte oder ob es ihm erzählt worden war. Sicher hatten die Zöllner in der weiten Umgebung davon erfahren! Da hatte der junge Matthäus nachzuforschen begonnen, wer wohl dieser Jesus war. Jesus musste ja so wichtig sein, dass die Sterndeuter von weit her kamen, und er war so bedeutend, dass Herodes später keine Grausamkeit scheute ihn umzubringen. Und so forschte Matthäus, von wem dieser Jesus stammte. Er forschte nach den Vorfahren des Josef und machte eine Genealogie (Ahnenfolge). Ob er diese Genealogie später als Evangelist noch etwas zurechtrückte, sei dahingestellt. Doch die nur auf Josef bezogene Ahnenfolge lässt vermuten, dass sie nachgeforscht wurde, ehe Matthäus davon wusste, dass Jesus von einer Jungfrau geboren war. Matthäus wollte später als Evangelist die grosse Arbeit der Ahnenforschung des heiligen Josef, die er als Jugendlicher gemacht hatte, in sein Evangelium einfügen und scheute sich nicht, dann schlicht und einfach anzufügen: „Mit der Geburt Jesu Christi war es so: Maria, seine Mutter, war mit Josef verlobt; noch bevor sie zusammengekommen waren, zeigte sich, dass sie ein Kind erwartete – durch das Wirken des Heiligen Geistes.“ (Mt 1,18). Ich war nie davon überzeugt, dass Matthäus eine solch aufwändige Ahnenforschung betrieben hätte, wenn er gewusst hätte, dass Josef nicht der leibliche Vater von Jesus war. Viel wahrscheinlicher scheint, dass Matthäus diese Forschung schon viel früher in der Meinung gemacht hatte, Josef sei der leibliche Vater Jesu. Er forschte ja nach dem Grund, warum Herodes so überzeugt war, dass dieser Jesus seine Macht übernehmen könnte. So forschte also Matthäus in Richtung Abstammung von jüdischen Königen und kam auf das Ergebnis, dass Josef aus königlichem Geschlecht war. Später dachte er, dass seine Ahnenforschung doch noch nützlich sein könnte, um die Juden von Jesus zu überzeugen. Josef war ja schliesslich auch trotz der Jungfrauengeburt rechtlich der Vater Jesu war.

 

Es ist mir bewusst, dass ich hier einige Spekulationen in den Raum gestellt habe, die vielleicht nicht zu beweisen sind. Doch möchte ich damit bewusst eine Grenze durchbrechen, die kaum jemand zu durchbrechen traut. Freikirchliche Kreise, aber auch mehr und mehr Bibelwissenschafter kommen auf den Schluss, dass die späte Datierung der Evangelien einen Holzweg darstellt, den die Exegeten ohne genügend wissenschaftliche Beweise über ein Jahrhundert mit grosser Selbstsicherheit gegangen sind. Diese neueren Bibelwissenschafter setzen dann die Entstehung der Evangelien sehr zaghaft um das Jahr 60 fest. Warum aber nicht Jahr 33, oder eben noch früher? Warum sollten die Evangelisten nicht schon zu Lebzeiten Jesu mit Schreiben begonnen haben, so wie es Menschen gab, die schon zu Lebzeiten von Königen und Kaisern ihre Schriften verfasst hatten?

 

!! Bemerkungen zu Markus/Zusammenfassung

 

– Markus schreibt seine Kindheitserinnerungen

 

Mir scheint, dass Markus die Ereignisse von der Heilung der Schwiegermutter Petri (Mk 1,29) bis zum letzten Gang Jesu nach Jerusalem (Mk 10,32) in einer Art schildert, die Kindheitserinnerungen entspricht. Er beschreibt v.a. Handlungen und Stimmungen in einer Weise, die der ganzheitlichen Wahrnehmungen eines Buben entspricht, der es später als Erwachsener mit dieser Lebendigkeit aufschreibt. Wenn ich an meine eigenen Kindheitserinnerungen denke, dann sehe ich in mir viele Stimmungen und Aufsehen erregende Ereignisse. Doch über die Inhalte von Gesprächen unter Erwachsenen weiss ich wenig. So weiss ich z.B. noch genau, wie die Freundinnen meiner Mutter beim „Frauezmorge“ miteinander zusammen waren, wie die Stimmung war, was auf dem Tisch stand, wie das Zimmer aussah, wie die Luft war etc. Doch könnte ich kaum mehr sagen, was sie geredet hatten. In dieser Weise scheinen auch die Erzählungen von Markus zu sein: detailliert in der Schilderung des äusseren Geschehens, der Stimmungen, aber relativ knapp, wenn es um den Inhalt der Gespräche geht.

 

Möglich, dass in den Augen von Markus das in der frühen Kirche verbreitete Matthäusevangelium zu kühl und zu distanziert war. Die Absicht von Matthäus war ja nicht, die Nähe Jesu zu den Menschen aufzuzeigen, sondern dass Jesus die jüdischen Erwartungen erfüllt hatte. Markus hatte hingegen als Kind Jesus ganz nahe erlebt. Ihn interessieren als Evangelist nicht so sehr alttestamentliche Bezüge, sondern die Nähe des Herrn. Als Kind hatte er diese Nähe erfahren und als Evangelist sah er sich dann gedrängt, diese zu schildern, ebenso auch die Stimmungen und Eindrücke, die ihm als Kind tief ins Gedächtnis gegraben waren. Er beschreibt die einzelnen Ereignisse meistens ausführlicher als Matthäus, v.a. wenn es um äusserliche Einzelheiten, um Stimmungen und ganz allgemein um das von einem Kind unmittelbar Wahrgenommene geht. So nehme ich an, dass Markus die meisten Wunder Jesu selber miterlebt hat und diese deshalb auch so kindlich-farbig schildert. Dazu passt auch, dass ihn die Reden Jesu und insbesondere die Disputationen mit den Pharisäern nicht so sehr interessieren. Die Bergpredigt lässt Markus gleich ganz weg. Meine kaum beweisbare, aber menschlich einfache Hypothese dazu ist, dass der arme Bub eingeschlafen ist, als Jesus zu einer langen Predigt anhob. Als Erwachsener wusste Markus wohl, dass Matthäus die Bergpredigt gehört und dann gut aufgeschrieben hatte. So fand er es nicht nötig, sie nochmals niederzuschreiben. Ebenso kümmert er sich nicht um die Kindheitsgeschichte und den Stammbaum Jesu, denn auch diese stehen ausserhalb seiner persönlichen Erinnerungen.

 

Hier nochmals einige Beispiele von Schilderungen von Wundern, Menschenmassen, schlicht von allem, was Aufsehen erregt. Dazu gehören auch kuriose Details sowie die Wahrnehmung von Stimmungen:

  • Die geradezu sensationslustige und detaillierte Beschreibung, wie der Gelähmte von vier Männern getragen durch das Dach und die Decke vor die Füsse Jesu gelassen wird (Mk 2, 1-12 // Mt 9, 1-8).
  • Bei der Heilung der verdorrten Hand beschreibt Markus die angespannte Stimmung – den Argwohn der Pharisäer und den Zorn und die Betrübnis Jesu. Die Diskussion selbst interessiert ihn weniger als eben die Stimmungswahrnehmung. (Mk 3, 1-6 // Mt 12, 9-14).
  • Der Besessene von Gerasa wird in allen Details beschrieben. Auch die Anzahl der ertrunkenen Schweine interessiert Markus, während das für Matthäus als reine Sensation nicht von Bedeutung ist (Mk 5, 1-20 // Mt 8, 28-34).
  • Bei der Heilung des Taubstummen werden intimste Details geschildert (Mk 7, 31-37, ohne Parallele in andern Evangelien),
  • ebenso bei der Heilung eines Blinden (Mk 8, 22-26, ohne Parallele).
  • Den Exorzismus nach der Rückkehr Jesu vom Berg der Verklärung beschreibt Markus geradezu filmreif – kindlich beeindruckt (Mk 9, 14-29 // Mt 17, 14-21).

All diese Schilderungen gleichen lebendigen Kindheitserinnerungen. Nur Markus schreibt sie in dieser kindlichen Art, an Äusserlichkeiten und körperlichen Wahrnehmuungen interessiert.

 

Als einziger Evangelist erzählt Markus gleich an zwei Stellen, dass Jesus ein Kind bzw. die Kinder in seine Arme nahm:

– Jesus „nahm ein Kind, stellte es mitten unter sie, umarmte es und sprach zu ihnen…“ (Mk 9,36)

– Jesus „umarmte und segnete sie“ (die Kinder)

Kein anderer Evangelist schreibt von diesen beiden Umarmungen – wahrscheinlich, weil dieses Detail theologisch nicht wichtig ist. Doch Markus schreibt darüber – wahrscheinlich, weil ihm dieses Erlebnis, von Jesus umarmt geworden zu sein, so tief in seiner Erinnerung ist, dass er darüber unmöglich schweigen kann.

 

 

– keine Kindheitserinnerungen nach Jesu letztem Gang nach Jerusalem (Mk 10,32)

 

Der Spannungsabfall ab dem Moment, wo Jesus seinen letzten Gang nach Jerusalem antritt (Mk 10,32), legt die Annahme nahe, dass das meiste, was vor diesem Zeitpunkt geschah, der Markus als Bube selber miterlebt hatte, was aber danach geschah, er später von Petrus erzählt bekam. In der Annahme, dass Jesus wusste, wann seine Stunde kam, liegt es nahe, dass Markus nicht mitgehen durfte, als Jesus zum letzten Mal nach Jerusalem zog. Jesus wusste, dass der vermutlich kaum 12-jährige Bub noch zu jung war, um die Szenen des Leidens und Todes zu verkraften und ordnete wohl an, dass er zuhause bei der Frau des Petrus zurückbleiben solle – alles andere wäre unmenschlich gewesen. Und so hatte Markus alles, was nach dem Weggang Jesu von „zuhause“ (Mk 10,32) geschehen war, aus zweiter Hand – wahrscheinlich von Petrus. Während bis zu diesem Punkt fast alle Szenen (die Reden Jesu ausgenommen) bei Markus ausführlicher geschildert werden als bei Matthäus, beginnen ab hier die Erzählungen einmal bei Matthäus, einmal bei Markus ausführlicher zu sein. Auffällig dabei ist die Blindenheilung von Jericho (Mk 10,46-52). Die sonst bei Markus so beliebten Details fehlen da plötzlich. Markus schildert diese Heilung nicht inniger als Matthäus, ja Matthäus berichtet sogar, wie Jesus die Blinden berührt, während Markus über diese Berührung schweigt – wo ihm das doch sonst so wichtig war. Die gewohnt ausführlichere Art der Szenenschilderung von Markus fällt ab Mk 10,32 durchwegs ab.

 

Die Passion nach Markus ist nicht bildhafter, als jene von Matthäus. Wie hätte Markus wohl geschrieben, wenn er das als Kind miterlebt hätte? Ist da die Menschheit nicht um eine Passion gekommen, die an Innigkeit seinesgleichen suchen würde? Der Herr wusste jedoch sehr wohl, warum er den kleinen Markus zuhause liess! Vielleicht wäre Markus als Kind davongerannt, durchgedreht, traumatisiert, und Petrus wäre überfordert gewesen, auf ihn zu schauen, und wir hätten heute vielleicht gar kein Markusevangelium.

Die Frage, wer denn der junge Mann war, der Jesus nach seiner Gefangennahme folgen wollte und schliesslich nackt die Flucht ergreifen musste (Mk 14,52), bleibt hier unbeantwortet.

 

Der kanonische Markusschluss (Mk 16, 9-20) liesse sich unter dem Gesichtspunkt erklären, dass Markus beim ganzen Auferstehungsgeschehen nicht dabei war und deshalb diesen Teil der Geschichte zusammenfassend schreibt.

 

 

– Markus, ein Sohn des Petrus

 

Petrus schreibt Ende des 1. Petrusbriefes: „Es grüsst euch… Markus, mein Sohn“ (1 Petr. 5,13). In diesem Gruss eine ausschliesslich geistige Beziehung zu sehen, scheint mir nicht zu Petrus zu passen. Man kann in diesem Punkt Petrus nicht mit Paulus vergleichen – Paulus hatte als Charismatiker geistliche Söhne. Petrus hatte dies eher nicht; er steht als Leiter der Kirche über der Sache. Der Sohn Markus hat bei Petrus eine einzigartige Position und das lässt sich eher durch ein wirkliches Vater-Sohn-Verhältnis erklären. Allerdings scheint es nicht passend, dass Markus ein leiblicher Sohn des Petrus war. Denn Petrus sagt zu Jesus: „Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt“ (Mk 10,28). Bei diesem Verlassen hat Petrus kaum einen Sohn mitgenommen. Dass ihm aber später Jesus einen Pflegesohn zugeführt hatte, ist dagegen nicht auszuschliessen.

 

Dass Markus in einer leiblichen Abhängigkeit von Petrus lebte, können wir daraus schliessen, dass er in der Hervorhebung des Petrus zurückhaltend ist. Es ziemt sich nicht, einen Verwandten hervorzuheben. Zwar hält sich auch Markus an die Regel, Petrus an erster Stelle zu nennen, denn es wäre umgekehrt auffällig, wenn er das nicht täte. Doch anders als bei Markus finden wir in jedem andern Evangelium mindestens eine massive Hervorhebung des Petrus (im Folgenden nur eine Auswahl):

  • Mt 16,18-19: Petrus, der Fels, auf dem Jesus seine Kirche baut.
  • Lk 5,3-11: Jesus predigt vom Boot des Simon aus, gibt ihm den Auftrag zum Fischfang, beruft ihn zum Menschenfischer und mit Petrus folgen auch die andern Jünger.
  • Joh 21: Das ganze 21. Kapitel des Apostels Johannes ist nichts als eine Bekräftigung des Petrusamtes. Ausserdem hebt Johannes in seinem Evangelium wiederholt den Vorrang des Petrus hervor.
  • Apg: Petrus redet wiederholt im Namen der Zwölf.

Bei Markus finden wir lediglich eine sehr subtile und wohl eher versehentliche Hervorhebung des Petrus (vgl. S. 24 „Mk 3,13-19: Berufung der 12 Apostel“).

 

Ein bemerkenswertes Detail ist, dass Markus mehrmals davon schreibt, dass Jesus „nach Hause kam“, „zuhause“ mit den Jüngern sprach etc. Dieses „zuhause“ ist leicht zu erklären, wenn wir annehmen, dass damit das Haus des Petrus und Andreas gemeint ist, wo Markus eben zuhause war.

 

 

            – und das Zeugnis des Papias?

 

Natürlich habe ich nach meinen Untersuchungen nicht versäumt, hinzuschauen, was denn so allgemein die Wissenschafter über Markus zu sagen haben. Dabei bin ich im Lexikon für Theologie und Kirche (LThK) auf die Stelle gestossen, wo Papias von Hierapolis zitiert wird: „Er selbst (Markus) hatte weder den Herrn gehört, noch war er ihm nachgefolgt, sondern erst später…dem Petrus“. Zuerst geriet ich wegen dieses Zitates in Unruhe. Dann aber bedachte ich folgende drei Punkte:

  1. muss berücksichtigt werden, dass Papias als apostolischer Vater bereits mit einem gewissen Abstand zum Geschehen schrieb. Zudem sind von ihm keine Werke überliefert, sondern nur Zitate, die einem gesamten (unbekannten) Zusammenhang entnommen sind. Selbst das LThK hält sich zurück, ganze Theorien auf die spärlichen Papias-Zitate abzustützen.
  2. gilt Papias als der „Blick“ des Altertums und wird von Theologen aller Richtungen nicht immer ernst genommen. Wenn ich bedenke, dass es in unseren Medien dann und wann Texte gibt, die genau das Gegenteil von dem berichten, was geschehen war, dann ist zumindest nicht auszuschliessen, dass in der antiken Wohlstandsgesellschaft schon Ähnliches geschehen war.
  3. könnte man sich vorstellen, dass für Papias nicht zählte, was jemand als Kind erlebt hatte, und so eben Markus „weder den Herrn gehört, noch ihm nachgefolgt war, sondern erst später (als Erwachsener) dem Petrus“.

 

Wollte man annehmen, dass Markus die Inhalte lediglich später von Petrus erfahren hätte, dann stellte sich die grosse Frage, warum bei ihm die Bergpredigt gänzlich fehlt. Wenn das Markusevangelium eine Frucht der Predigten des hl. Petrus sein sollte, dann würde doch niemand dem Apostelfürsten unterstellen wollen, dass er die Bergpredigt vergessen hätte. Viel glaubhafter ist da die Annahme, dass Markus das Matthäusevangelium schon kannte und es deshalb nicht für nötig hielt, die Predigten Jesu nochmals aufzuschreiben, da diese von Matthäus, dem die Worte Jesu wichtiger waren als äusserliche Umstände, bereits sehr gut wiedergegeben waren.

 

Schliesslich wirkt der Gedanke, dass der staunende 10- bis 12-jährige Markus mit all seinen Sinnen das Geschehen kindlich-ganzheitlich tief in sich aufnimmt und später als junger Evangelist aufschreibt, für die Aufnahme und die Vertiefung seines Evangeliums sehr belebend.

Welches Evangelium war vorher, Markus oder Matthäus?

 

– Die Zerstörung Jerusalems als Hinweis auf den Zeitpunkt der Abfassung?

 

Vorerst möchte ich bemerken, dass diese Frage nicht so wichtig wäre, wenn heute nicht überall behauptet würde, dass die Evangelien weit weg vom Geschehen verfasst worden seien. Es wird gesagt, dass die Evangelisten verschiedene Quellen benutzt hätten, ohne das Geschriebene selber erlebt zu haben. Diese Kommentare stützen sich v.a. auf eine sehr eigenartige Annahme. Sie gehen davon aus, dass Jesus nicht fähig war, etwas vorauszusagen. In den Evangelien wird jedoch berichtet, dass Jesus die Zerstörung Jerusalems vorhergesagt hatte. Nun behaupten diese Exegeten, dass die Evangelien deshalb erst nach der Zerstörung Jerusalems geschrieben sein konnten. Professor Dr. Karl Jaros widerlegt diese weitverbreitete Theorie in einem Vortrag vor dem Linzer Priesterkreis. Er zitiert eine Prophezeiung von Rabbi Jachanan ben Zakai aus der vor dem Jahre 30 verfassten „Assumptio Mosis“ wie folgt: „In ihr Gebiet werden Cohorten einfallen und des Abendlands mächtiger König, der sie erobern wird. Und sie werden sie gefangen fortführen; einen Teil ihres Tempels wird er mit Feuer verbrennen und einige um ihre Ansiedlung herum kreuzigen.“ (Franz Breid: „Wer euch hört, hört mich“ – Referate der Internationalen Theologischen Sommerakademie 2011 des Linzer Priesterkreises, S. 108). Bedenkt man, dass Rabbi Jachanan ben Zakai die Zerstörung des Tempels viel genauer beschreibt, als das in Jesu Vorhersage der Fall ist, dann kann man getrost annehmen, dass die Evangelisten keinerlei Bedenken hatten, die Vorhersage Jesu aufzuschreiben, noch lange bevor sie eingetroffen war. Neuere, gut fundierte Theorien gehen gar in die Richtung, dass wenn die Evangelien erst nach der Zerstörung Jerusalems geschrieben worden wären, dann müsste dieses tiefgreifende Ereignis immer wieder aufscheinen, was aber offensichtlich nicht der Fall ist.

 

Sicherlich begannen die Evangelisten Matthäus, Markus und wohl auch Johannes gleichzeitig oder kurz nacheinander zu schreiben, sobald sie sich der Bedeutung Jesu Christi bewusst wurden, also bald nach Pfingsten (vielleicht auch schon vorher – warum nicht?). Sie waren doch von den Ereignissen tief beeindruckt und hatten keinen Grund, mit einer Niederschrift der Ereignisse zu warten. Dem gesunden Menschenverstand folgend ist es auch gut denkbar, dass sie schon zu schreiben begonnen hatten, bevor Jesus gekreuzigt worden war. In diesem Falle hätten sie dann wahrscheinlich im Nachhinein ihre Niederschrift nochmals redigiert. Aber die Tatsache, dass sich die Evangelien so lesen lassen, wie wenn sie nach Jesu Auferstehung in der Art eines Rückblick geschrieben worden waren, schliesst längst nicht aus, dass die Evangelisten einzelne Eindrücke schon vorher geschrieben hatten. Wurde nicht über manche Heiligen schon geschrieben, bevor sie im Rufe der Heiligkeit gestorben waren? Wieso nicht über Jesus?

Wie auf Seite 55 schon erwähnt, ist es mit gesundem Menschenverstand sogar nachvollziehbar, dass der junge Matthäus unter dem Eindruck des Kindermordes von Bethelehem neugierig wurde. Wer war denn da geboren, dass König Herodes Angst bekam, seine Macht zu verlieren? Woher stammte dieses Kind, von dem die Gelehrten dem Herodes sagten, dass es ein König sei? Und so hatte der junge Matthäus möglicherweise nach den Ahnen Jesu geforscht, ehe er Jesus persönlich begegnet war.

 

Über den Zeitpunkt der Abfassung möchte ich zudem generell bemerken, dass es menschlich gesehen unwahrscheinlich ist, dass die Evangelisten Jahrzehnte mit der Niederschrift gewartet hatten. Wenn auch die Zeit weniger schnelllebig war, so ist kaum nachvollziehbar, dass man mit der Niederschrift der Lebensgeschichte Jesu wesentlich länger gewartet hätte als z.B. mit der Beschreibung einer Schlacht, eines Triumphzuges oder einer sonst bewegenden Sache. Dem gesunden Menschenverstand folgend steht die Annahme einer Abfassung kurz nach dem Pfingstereignis wesentlich näher, als jene Theorien, die mündliche Traditionen und andere schriftliche Quellen und womöglich auch noch das Markusevangelium zwischen das Geschehen und das Matthäusevangelium schieben. Dass Matthäus und Markus aus andern Quellen abgeschrieben haben, scheint mir an den Haaren herbeigezogen. V.a. fehlt jeglicher archäologische Befund; weder von der sog. Quelle Q, noch von Q1, Q2 und was es da alles noch gegeben haben soll, wurde je ein Fetzen gefunden. Ich staune, dass diese Quellen in weit verbreiteten Bibelausgaben erwähnt werden, obschon man sie nie gesehen hat.

 

Dass die Evangelisten einander abgeschrieben hatten, scheint wegen der dürftigen wortwörtlichen Übereinstimmungen unwahrscheinlich. Dass sie jedoch einander gekannt hatten und der eine vom andern wusste, was er geschrieben hatte, das liegt doch auf der Hand! So lässt sich leicht erklären, dass es Übereinstimmungen gibt, die aber kaum wörtlich sind. Einer hat wohl von den Schriften des andern gehört oder sogar darin gelesen. Doch von der heutigen Mentalität des genauen Zitierens waren sie weit weg und so ist auch nicht anzunehmen, dass sie beim Schreiben viele Schrieftstücke vor sich liegen hatten, wie das heute aus inspirationsarmen Schreibtischen der Fall ist.

 

 

– Hat Markus den Matthäus gekannt?

 

Beide Evangelien, Matthäus und Markus, weisen eine grosse Eigenständigkeit auf. Wortwörtliche Übereinstimmungen gibt es in der Regel nur bei kurzen, markanten Sätzen (wenige Ausnahmen mit mehr als 5 Wörtern). Solche kurze markante Sätze hatten die Menschen damals im Gedächtnis. Es brauchte dazu keine schriftliche Vorlage. Grundlage der Texte war das erlebte Geschehen selbst und nicht irgendwelche Zeugnisse von Zeugen, die jemanden gekannt hatten, der die Apostel gesehen hatte.

 

Aufgrund der wenigen wortwörtlichen Übereinstimmungen ist also anzunehmen, dass weder Markus dem Matthäus noch umgekehrt abgeschrieben hatte. Der junge Markus hatte wahrscheinlich nicht so bald zu schreiben gewagt wie der gelehrte und erfahrene Matthäus. Vielleicht konnte Markus noch gar nicht so gut schreiben zum Zeitpunkt, als Matthäus das sein Evangelium schon geschrieben hatte. Passen würde zu allem Gesagten, dass die Leute im Bekanntenkreis von Markus das Matthäusevangelium kannten und Markus dann gedrängt hatten, seine Version aufzuschreiben, da sie sahen, dass er viele Einzelheiten zu berichten wusste, die im Matthäusevangelium fehlten. Wahrscheinlich dürfen wir annehmen, dass Markus das Matthäusevangelium kannte, aber es bei der Abfassung seines eigenen Evangeliums nicht vor sich hatte. So liesse sich auch erklären, warum bei Markus der Stammbaum Jesu, die Diskussion Jesu mit dem Teufel in der Wüste, die ganze Bergpredigt und andere Worte Jesu fehlen, da er mit dem Bericht von Matthäus vollends zufrieden war und eine Verdoppelung in dieser Sache vermeiden wollte.

 

Dass die Evangelien nach Matthäus, Markus und Lukas in Vielem übereinstimmen, aber eben nicht wörtlich, gibt noch lange keine Grundlage dazu, sog. „Quellen“ dazwischen zu schieben. Viel einfacher ist die Erklärung, dass sie voneinander wussten, aber die Texte nicht schriftlich vor sich hatten (das wäre zu aufwändig gewesen und wurde auch nicht für nötig gehalten). Ich möchte beliebt machen, dass man mit dem Ausbessern und vielfachen Differenzieren der in der Bibelwissenschaft verbreiteten Zweiquellentheorie aufhören soll. Dazu hilft auch die Archäologie, welche seit vielen Jahren immer wieder Zeugnisse zu Tage fördert, die nachweisen, dass die Evangelien viel früher geschrieben waren, als die Exegeten des 20. Jahrhunderts zu beweisen behaupten, ohne sich dabei auf die Archäologie berufen zu können. Leider ist die Zusammenarbeit zwischen Exegese und Archäologie sehr dürftig, weil für die Exegeten eben nicht sein kann, was nicht sein darf. Ich erinnere da nur an den Fund des Fragmentes 7Q5, aus welchem man schliessen kann, dass in der nichtchristlichen Bibliothek von Qumran das Markusevangelium bereits vor dem Jahre 70 vorhanden war – d.h. dass das Markusevangelium zu diesem Zeitpunkt bereits allgemeines Kulturgut war.

 

Gedanken zum Lukasevangelium

Zwar ist Lukas nicht direkt Gegenstand dieser Arbeit, aber ich möchte an dieser Stelle doch einige Gedanken niederschreiben, die mich schon lange bewegen.

 

– Für wen schreibt Lukas?

 

Zu Beginn des Lukasevangeliums steht die Anrede „hochedler Theophilus“ (Lk 1,3). Das deutet auf eine hohe Persönlichkeit. Wollte Lukas einen römischen Beamten von der Richtigkeit der christlichen Lehre überzeugen? Liest man unter diesem Gesichtspunkt die Fortsetzung des Lukasevangeliums, die Apostelgeschichte, erscheint diese als eine geschickte Schrift, die davon überzeugt, dass die Verfolgung der Christen ungerecht ist. Die Verfolgung der Apostel Petrus und Johannes, die Steinigung des Stephanus, die Hinrichtung des Apostels Jakobus und schliesslich die vielfältigen Verfolgungen des Apostels Paulus werden in einer Weise berichtet, dass das Unrecht der Verfolger zum Himmel schreit. Die Apostelgeschichte ist massgeschneidert, um einen römischen Beamten von der Ungerechtigkeit der beginnenden Christenverfolgung zu überzeugen!

 

 

– Wann wurde das Lukasevangelium geschrieben?

 

Der scharfsichtige Professor Karl Jaros (Wien) sagte im bereits erwähnten Vortrag vor dem Linzer Priesterkreise (Sommerakademie 2011): „Die zeitliche Einordnung der Apostelgeschichte um 62 ist durch handfeste Argumente gesichert und so auch das zuvor entstandene Evangelium nach Lukas.“ So wird z.B. über den Kaiser in der Apostelgeschichte (wie auch in allen Evangelien!) immer mit einer gewissen Hochachtung geschrieben. Wobei gerade der Evangelist Lukas sich nicht scheut, die Schlechtigkeit des Königs Herodes oder auch die Feigheit des Pontius Pilatus hervorzuheben. Offensichtlich war der Kaiser bis zur Vollendung der Apostelgeschichte noch nicht der eigentliche Verfolger der Christen. Ein Hinweis, dass die Apostelgeschichte wie auch die Evangelien vor der Verfolgung des Kaisers Nero im Jahre 67 fertig geschrieben und herausgegeben waren!

 

Das Ende der Apostelgeschichte verrät ziemlich genau den Zeitpunkt ihrer Herausgabe. Lukas schildert in spannender Weise den Kampf des Apostels Paulus. Er wird von seinen Jüngern in einer spektakulären Aktion bei Nacht in einem Korb über die Stadtmauer von Damaskus gerettet (Apg 9,23-25). Die Silberschmiede in Ephesus bringen gegen ihn einen gewaltigen Aufruhr in Gang (19,23-40). Sodann folgt eine Erzählung, die man wegen ihrer vielen Parallelen zum Leiden Jesu mit gutem Recht „Passion des Apostels Paulus“ nennen kann: seine Gefangennahme in Jerusalem mit dem Schrei des Volkes „weg mit ihm“ (21,27-36), das Verhör vor dem Obersten (22,27-29), dem Hohen Rat (23,1-10), dem Statthalter Felix (Kapitel 24), dem Statthalter Festus und dem König Agrippa (Kapitel 25). Nach all den dramatischen Berichten beendet Lukas dann aber seine Apostelgeschichte mit der einfachen Bemerkung, dass Paulus 2 Jahre lang in einer Mietwohnung in Rom die Leute empfing (vermutlich in den Jahren 61/62). Kein Wort über das Verhör beim Kaiser, weswegen ja Paulus in Rom war!

Die einfache Erklärung: Die Apostelgeschichte wurde veröffentlicht, als Paulus in seiner Mietwohnung die Leute empfing. Nicht vorher und nicht nachher! Vielleicht ist dieser Schluss zu einfach, um von allen Theologen akzeptiert zu werden. Ich neige dazu anzunehmen, dass Lukas bei der Abfassung der Apostelgeschichte das Ziel vor Augen hatte, über den angesehenen römischen Beamten Theophilus Einfluss auf den Kaiser zu nehmen und so einen Freispruch des Apostels Paulus zu erwirken. Dazu passt auch, dass die Festhaltung des Apostels Paulus in der Mietwohnung in Rom als sehr menschlich beschrieben wird, wohl auch um zu zeigen, dass man in der Hand des Kaisers besser behandelt wird als anderswo. So war es für Lukas sehr wichtig, dass seine Apostelgeschichte noch vor dem Verhör des Apostels Paulus beim Kaiser fertig geschrieben war. Wieso denn sonst hat der beredte Lukas, der jegliches Leiden des Apostels Paulus gerne an die Öffentlichkeit trug, nicht vom Verhör beim Kaiser berichtet, nachdem er alle Verhöre zuvor mit Akribie protokolliert hatte?

Wäre die Apostelgeschichte erst nach dem Jahr 67 verfasst worden, könnte ich mir nicht erklären (und auch Professor Dr. Jaros nicht), dass der Bericht über die Hinrichtung des Petrus und des Paulus fehlt. Dabei hatte Lukas sowohl die Steinigung des Stephanus als auch die Hinrichtung des Apostels Jakobus genau beschrieben.

So zeigt sich die Apostelgeschichte als eine Schrift, die unmittelbar am Puls des Geschehens ist. Dass das Lukasevangelium vor der Apostelgeschichte geschrieben wurde, ist aufgrund der einleitenden Worte der Apostelgeschichte klar.

 

 

– Das Lukasevangelium als Einstieg für Bibelleser!

 

Viele, die die Bibel lesen wollen, werden nach kurzer Zeit entmutigt. Die Bibel ist eben kein Roman, sondern eine Zusammenstellung von 73 Büchern, bei denen sozusagen jedes für sich gelesen sein will. So ist das Durchackern der Bibel kein einfaches Unterfangen. Aber innerhalb dieser 73 Bücher finden wir das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte; sie lesen sich wie ein spannender Roman! Lukas beschreibt die Dinge – wie er selber sagt – „der Reihe nach“ (Lk 1,3). Das entspricht ganz unserer deutschsprachigen Denkweise. Das Alte Testament ist z.B. in weiten Teilen viel schwieriger zu verstehen. Denn es ist in einer Mentalität geschrieben, der die zeitliche Abfolge und auch die Frage, wie es denn wirklich war, völlig unwichtig ist. Oder der Apostel Paulus schreibt in einer Denkweise, die kreist und kreist, ausholt, abschweift und wieder kreist. Oder der Apostel Johannes schreibt in einer Symbolsprache, die uns wenig vertraut ist. Die Apokalypse ist gar in einer kräftigen Bildsprache abgefasst, die man erst einmal studieren muss, ehe man sie versteht. All diese Probleme finden wir weder beim Lukasevangelium noch bei der Apostelgeschichte. So empfiehlt es sich, wenn jemand die Bibel lesen möchte, gerade mit diesen beiden Büchern zu beginnen – vielleicht heute?

 

 

– Welche Quellen hat Lukas gebraucht?

 

Wie das Lukasevangelium entstanden ist, das können wir bei Lukas selber nachlesen: Lk 1,3. Er ist jener, der die bereits bestehenden Schriften – vermutlich auch Matthäus und Markus – studiert und auf eine Reihe bringt. So liesse sich sehr natürlich und einfach erklären, dass bei Lukas fast alles von Markus enthalten ist und dann eben auch noch das, was bei Matthäus zu finden und bei Markus nicht aufgeschrieben ist. So einfach ist doch die Quellenlage. Dabei sollten wir nicht an eine Abschrift denken (wie das heutzutage zusammen mit den mühsamen Zitatangaben immer gemacht wird und so die ganze wissenschaftliche Tätigkeit in ihrer Inspiration lähmt), sondern, dass Lukas die verschiedenen Schriften in seinem Gedächtnis präsent hatte, z.T. wörtlich (v.a. bei prägnanten Aussagen) und zum grösseren Teil sinngemäss. Er konnte sich kaum alle Schriften erwerben, sondern die einen einsehen, die andern bekam er erzählt, wieder Anderes hat er von Leuten berichtet bekommen, die mit Jesus zusammen waren. Ich weiss, dass diese Gedanken nicht streng wissenschaftlich sind, aber sie entspringen dem gesunden Menschenverstand – so wie ich z.B. annehme, dass Lukas zwischendurch gegessen hat, mit andern geredet hat, geschlafen und geträumt hat etc. Ich kann das nicht beweisen, aber ich nehme es an.

 

Für die Kindheitsgeschichte hatte er noch eine andere, sehr lebendige Quelle, wie wir das in der christlichen Tradition überliefert haben: Maria, die Muttergottes. Daraus erklärt sich auch die äusserste Sorgfalt beim Bericht über die Verkündigung. Über Maria wird dort nur das Allernötigste gesagt, aber eben all das, was ihm Maria nicht verbieten konnte, zu schreiben. So bringt es Lukas fertig, mit dem einen Wörtchen [kecharitooménä] alles zu sagen, was die Kirche später über die Perfektion Mariens dogmatisiert hat. Der Engel grüsst Maria mit den Worten: [chaire kecharitooménä] (Lk 1,28). Das Wort chaire können wir übersetzen mit „sei gegrüsst/freue dich“. kecharitooménä ist schwieriger zu übersetzen. Es steht im griechisch Perfekt, was heisst, dass es das ganze Sein Mariens umfasst. So ist also die Übersetzung „Begnadete“ (Einheitsübersetzung) völlig ungenügend, da sie den Eindruck erweckt, dass Maria von der Gnade etwas angehaucht wird. Die Übersetzung „voll der Gnade“ ist besser, aber insofern immer noch ungenügend, als sie den Eindruck erwecken kann, dass Maria ein Gefäss ist, das von Gott mit Gnade gefüllt wird. Doch ist das Gefäss selber schon Gnade! So müsste man übersetzen: „Sei gegrüsst, Gnadene“; so bekommt man den richtigen Eindruck, dass Maria ganz und gar Gnade ist, vom ersten Moment ihres Daseins bis hin zur ewigen Vollendung. Gefäss und Inhalt sind Gnade. Das Problem ist nur, dass das Wort „Gnadene“ gar nicht existiert (der ganze Gedankengang stammt von Dr. bibl. Reto Nay). Aber eben im Griechischen gibt es diese Ausdrucksweise. Und so können wir sowohl das Dogma von der Unbefleckten Empfängnis, als auch das Dogma von der Himmelfahrt Mariens mit diesem einen Wort aus dem Lukasevangelium begründen.

 

Für die immerwährende Jungfräulichkeit hat Lukas ebenfalls eine sehr treffende, in der Jerusalemer Bibel gut wiedergegebene Formulierung in der Frage Mariens an den Engel: „Wie wird dies geschehen, da ich keinen Mann erkenne?“ (Lk 1,34). Dieses „erkenne“ steht in der Gegenwartsform. Dass Maria in diesem Moment, wo der Engel mit ihr spricht, keinen Mann erkennt, ist wohl klar (das griechische Wort [ginóoskoo] wird von Erwin Preuschen u.a. auch mit „geschlechtlich verkehren“ übersetzt). Also hat dieses Wort in der Gegenwartsform keine andere Bedeutung als eine Entscheidung Mariens. Sie erkennt keinen Mann, weil sie nicht will.

Anders macht übrigens die Frage Mariens gar keinen Sinn. Sie ist ja mit Josef verlobt. Wenn sie mit Josef später zusammenkommen wollte, dann wäre jegliche Frage an den Engel überflüssig. Schliesslich sagt der Engel nicht: „Du empfängst jetzt gleich in diesem Moment einen Sohn.“ Sondern er sagt: „Du wirst empfangen im Mutterleib und wirst gebären einen Sohn“. Wenn Maria, die ja mit Josef verlobt war, mit ihm nach der Heirat zusammenkommen wollte, dann bräuchte sie dem Engel diese Frage nicht zu stellen. Dann ginge die Geschichte so: Der Engel verkündet, Maria und Josef heiraten, nach der Heirat wird die Verkündigung des Engels wahr.

So war es ja bei Zacharias. Der Engel kündete die Geburt Johannes des Täufers an und „als die Tage seines Dienstes erfüllt waren, kehrte er nach Hause zurück… und Elisabeth empfing.“ (Lk 1,23-24).

Nur so lässt sich auch erklären, dass Zacharias wegen seiner Frage „woran soll ich das erkennen…“ bestraft wird und Maria auf ihre Frage vom Engel eine gütige Antwort bekommt. Zacharias fragt, weil er an der Allmacht Gottes zweifelt. Maria fragt, weil sie wissen muss, was sie zu tun hat, da die Geburtsankündigung im Widerspruch zu ihrem Jungfrauengelübde steht, das sie offenbar schon früher gemacht hatte. Sie hatte sich entschieden – vielleicht schon als Kind – keinen Mann zu erkennen. Und nur so ist ihre Frage verständlich „wie wird dies geschehen, da ich keinen Mann erkenne?“.

 

Wenn Lukas die Geschichte nicht von Maria selber erfahren hätte (von wem denn sonst? – nur Maria wusste, was der Engel zu ihr gesagt hatte und nur sie wusste, was sie dem Engel geantwortet hatte), dann hätte Lukas bestimmt über das Jungfrauengelübde Mariens geschrieben. Doch Maria hat ihm wohl nur unter der Bedingung erzählt, dass sie ihm auf die Finger schauen konnte, damit er nicht zu viel über sie schreibt. Und so kommt es, dass Lukas bei den Inhalten, die Maria betreffen, mit einer solchen Sorgfalt schreibt, dass der, der glauben will, in seinem Evangelium alles über Maria findet, was er finden muss. Und dem, der nicht glauben will, werden die Geheimnisse Mariens verborgen bleiben, auch wenn er das Lukasevangelium liest. Das gilt auch für das Magnificat.

 

Das gilt auch für die Szene der Wiederfindung des 12-jährigen Jesus im Tempel. Dort sagt Jesus zu Maria und Josef: „Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist?“ Damit meinte er gewiss nicht den Tempel, denn es heisst: „Und sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen sprach.“ Maria und Josef waren keine dummen Leute. Hätte er den Tempel gemeint, hätten sie das gewiss verstanden, nachdem sie 12 Jahre und Maria noch 9 Monate länger mit dem menschgewordenen Gottessohn zusammen waren.

Wir können uns kaum vorstellen, wie sehr Maria erschrak, als sie Jesus unter den Lehrern im Tempel sah und diese über ihn staunten. Als intelligente Frau wusste sie, dass bei diesen Lehrern bald Eifersucht, Neid und Missgunst aufkommen werden. Schliesslich kannte sie die damalige religiöse Szene sehr gut. Und Jesus macht ihr hier klar, dass sie ihm den Leib geschenkt hatte, damit er geopfert würde. Das war der Plan des Himmlischen Vaters bei der Menschwerdung. Darum sagte er zu ihnen: „Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist?“ – und Maria, die alles, was sie im Moment nicht verstand, in ihrem Herzen bewahrte, wird später verstanden haben, dass er unter den Schriftgelehrten sein musste, um geopfert zu werden und so den Plan seines Vaters zu erfüllen.

 

Schlussgedanke

Für das geistliche Leben ist es nicht fruchtbar, wenn wir zu lange darüber spekulieren, wer wohl wem was abgeschrieben haben könnte. Mir kommt das vor, als würden wir eine schöne Blume untersuchen um zu wissen, wie sie funktioniert. Vielleicht wissen wir am Ende einiges über ihr Innenleben, doch wir haben sie dabei zerstört. Viel wichtiger ist, die Blume zu betrachten und dabei zu realisieren, dass sie ein persönliches Geschenk des Schöpfers an uns Menschen ist.

So sollen wir auch unsere kostbare und oft so knappe Zeit darauf verwenden, die Evangelien als heilige Schriften zu betrachten. Sie sind ein kostbares Geschenk des dreifaltigen Gottes an uns.

 

Das heisst aber nicht, dass ein vergleichendes Lesen der Evangelien keinen Sinn macht. Denn wenn ich in einem Evangelium etwas finde, was im andern nicht steht, dann mache ich eine Entdeckung. Es ist, als sängen wir ein Lied, das wir auswendig können und auf einem Liedblatt taucht plötzlich eine neue Strophe auf. Das stelle ich fest, wenn ich z.B. etwas aus der Leidensgeschichte erzähle, das in der Liturgie meistens weggelassen wird, z.B. vom Jüngling, der nach der Gefangennahme Jesu nackt fliehen muss. Da hören die Leute plötzlich hin und machen sich Gedanken. So können – und das war das Ziel meiner ganzen Untersuchungen – jene Feinheiten und Innigkeiten, die wir nur bei Markus finden, unsere kindliche Hingabe an Jesus stärken und uns seine Zärtlichkeit betrachten lassen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Erarbeitet in Gspon (Staldenried/Wallis) im Mai 2013, Nachträge im September/Oktober 2013,

in Gspon nochmals überarbeitet Ende Juli/Anfang August 2014,

vollendet im Dominikanerinnenkloster St. Peter am Bach in Schwyz Ende November 2014.

 

Pfarrer Matthias Rey, Riemenstalden

 

 

 

 

 

 

matthias